Agatif | Relazione tedesca del dott. Joachim Becker – Trento – 3/10/2008
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Relazione tedesca del dott. Joachim Becker – Trento – 3/10/2008

Relazione tedesca del dott. Joachim Becker – Trento – 3/10/2008

Der Vollzug der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Deutschland

Dr. Joachim Becker, Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht Münster

I. Einleitung

Im Sommer des Jahres 2001 reisten Francesco Mariuzzo, Pierre Vincent, unser österreichischer Kollege Erwin Ziermann und ich nach Straßburg. Wir vier bildeten damals den Vorstand der Europäischen Verwaltungsrichtervereinigung, also des im Jahre 2000 gegründeten europäischen Dachverbandes, in dem die nationalen Verwaltungsrichterverbände zusammengeschlossen sind. Zweck der erwähnten Reise im Sommer 2001 war ein Besuch beim damaligen Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Luzius Wildhaber, dem namhaften und über die Grenzen seines Heimatlandes hinaus geschätzten Schweizer Völkerrechtler, dem wir die Europäische Verwaltungsrichtervereinigung vorstellen wollten. Luzius Wildhaber empfing uns ausgesprochen herzlich und freundlich und ließ uns spüren, daß wir für ihn Kollegen waren, Kollegen, die wie er und sein Gerichtshof auch zwar gelegentlich mit aufsehenerregenden und für die Rechtsentwicklung bedeutenden Prozessen betraut waren, aber auch mit mancherlei Alltagsarbeit zu kämpfen hatten, mit zeitraubender Lektüre von Unwichtigem, mit Querulanten, mit ständig steigenden Zahlen von Verfahrenseingängen, nicht zuletzt mit der überlangen Dauer der Verfahren. So erfuhren wir durch ihn auch von dem bedrückenden Umstand, daß der Straßburger Gerichtshof derart viele Beschwerden wegen einer Verletzung von Art. 6 EMRK – Recht auf ein faires Verfahren innerhalb angemessener Frist – zu bearbeiten hatte, daß er selbst nicht mehr in der Lage sei, innerhalb angemessener Frist zu entscheiden. Als wir uns schließlich vom Präsidenten verabschiedeten, gab er uns mit auf den Weg, gerade und auch die Verwaltungsrichter hätten eine besondere Verantwortung dafür, daß die Entscheidungen seines Gerichtshofs beachtet und umgesetzt würden. Dies zu versprechen, schien unserer Delegation leicht; wir werden jedoch sehen, wie schwierig es sich in Wahrheit gestaltet, den Straßburger Entscheidungen auf innerstaatlicher Ebene Geltung zu verschaffen.

II. Von Deutschland zu verantwortende Menschenrechtsverletzungen in Zahlen

Den Berichten der deutschen Bundesregierung zufolge, die die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Gegenstand haben, wurden in den Jahren 2004 und 2005 jeweils etwa 40.000 Individualbeschwerden vor dem Gerichtshof erhoben, im Jahre 2006 waren es ca. 50.500, im Jahre 2007 bereits 54.000 Individualbeschwerden, eine geradezu schwindelerregende Verfahrensflut, wenn man bedenkt, daß im Jahre 1955 lediglich 138 und auch noch Mitte der 80er Jahre lediglich 600 Individualbeschwerden registriert worden waren. Bei allem Anstieg der Eingangszahlen insgesamt ist jedoch in den jüngsten Jahren die Anzahl der gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichteten Beschwerden von ca. 2500 Beschwerden im Jahre 2004 über jeweils etwa 2.100 Beschwerden in den Jahren 2005 und 2006 auf etwa 1500 Beschwerden im Jahre 2007 zurückgegangen. Der größte Teil der Beschwerden wird vom Gerichtshof allein aufgrund der vom Beschwerdeführer vorgelegten Unterlagen schon für unzulässig erklärt. Das gilt auch für die gegen Deutschland gerichteten Beschwerden, die wegen offensichtlicher Unzulässigkeit gar nicht erst der Bundesregierung zur Stellungnahme übersandt werden. Lediglich in etwa 2 % der Fälle erfolgt gemäß der Verfahrensordnung des Gerichtshofs eine förmliche Aufforderung zur Stellungnahme. In den Individualbeschwerdeverfahren gegen Deutschland, in denen die deutsche Regierung zur Stellungnahme aufgefordert wurde, hat der Gerichtshof im Jahre 2004 in 12 Fällen eine abschließende Entscheidung getroffen, im Jahre 2005 in 27 Fällen, im Jahre 2006 in 22 Fällen und im Jahre 2007 in 75 Fällen. Im Jahre 2004 hat der Gerichtshof eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention in 5 Fällen festgestellt, im Jahre 2005 in 10 Fällen, im Jahre 2006 in 6 Fällen und im Jahre 2007 in 7 Fällen. 7 aus der Sicht der Beschwerdeführer erfolgreiche Fälle. Angesichts der Vielzahl der Verfahren vor dem Straßburger Gerichtshof vielleicht eine verschwindend geringe Zahl – für einen Rechtsstaat wie Deutschland aber eben 7 Fälle zu viel.

III. Vollzug der Entscheidungen des Straßburger Gerichtshofs in Deutschland

Damit sind wir schon beim Kern meines Themas angelangt: Wie werden die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in denen Konventionsverletzungen festgestellt wurden, in Deutschland umgesetzt? Dass Deutschland – ebenso wie alle anderen Konventionsstaaten auch – den Urteilen des Straßburger Gerichtshofs nachzukommen hat, ergibt sich aus Art. 46 EMRK, der in seinem Absatz 1 bestimmt: „Die Hohen Vertragsparteien verpflichten sich, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen.“, und der in seinem Absatz 2 regelt: „Das endgültige Urteil des Gerichtshofs ist dem Ministerkomitee zuzuleiten; dieses überwacht seine Durchführung.“

1. Gerechte Entschädigung nach Art. 41 EMRK

Im Allgemeinen beschränkt sich der Straßburger Gerichtshof auf die Feststellung einer Konventionsverletzung und verurteilt möglicherweise zur Zahlung einer gerechten Entschädigung nach Art. 41 der Konvention. Die Auszahlung dieser Entschädigung an den jeweiligen Beschwerdeführer hat, soweit ersichtlich, was Deutschland betrifft zu keinen nennenswerten Problemen geführt.

2. Wirkung des Urteils nach Art. 46 EMRK

In jüngerer Zeit ist der Gerichtshof aber neben der Feststellung einer Konventionsverletzung mehrfach auch dazu übergegangen, ausdrückliche, präzise Anordnungen zu treffen, die das Ermessen des betroffenen Staates bei der Frage, wie die Straßburger Entscheidung zu vollziehen sei, deutlich einschränken:

a) Pilot judgements zur Behebung struktureller Mängel; Sürmeli-Urteil des Straßburger Gerichtshofs

Der Gerichtshof tut dies zum einen in sog. pilot-judgements, in Musterverfahren also, die große Breitenwirkung haben und die durch Musterentscheidungen abgeschlossen werden, in denen strukturelle Mängel in dem betreffenden Konventionsstaat aufgezeigt und ganz konkrete Anweisungen zu deren Behebung gegeben werden. Bekannte Beispiele sind etwa die Verfahren Broniowski ./. Polen oder Scordino ./. Italien. Mit den pilot-judgements soll eine möglichst schnelle und wirksame Lösung des strukturellen Problems erreicht und nicht zuletzt – gleichsam als ein Akt prozessualer Notwehr, wie Christoph Grabenwarter, Mitglied des österreichischen Verfassungsgerichtshofs, es ausdrückt – eine immer wiederkehrende, arbeitsaufwendige, das Funktionieren des Gerichtshofs lähmende Beschäftigung mit stets denselben Fragen verhindert werden. Der Gerichtshof entspricht mit dieser Entscheidungspraxis einer Empfehlung des den Vollzug der Urteile überwachenden Ministerkomitees, welches in seiner Entschließung vom 12. Mai 2004 den Gerichtshof aufgefordert hatte, auf erkennbare strukturelle Probleme und ihre Ursachen hinzuweisen. Auch die Entscheidung der Großen Kammer des Straßburger Gerichtshofs vom 8. Juni 2006 in Sachen Sürmeli ./. Deutschland ist nach meiner Auffassung als ein solches pilot judgement zu verstehen. Es geht in jenem Fall um einen in Deutschland lebenden jungen Türken, der auf dem Weg zur Schule einen Unfall erlitten und der im Zeitpunkt der Entscheidung des Straßburger Gerichtshofs bereits seit 16 Jahren und 7 Monaten vergeblich auf eine gerichtliche Klärung der von ihm geltend gemachten Schadensersatzansprüche gewartet hatte. Unabhängig davon, daß der Gerichtshof in jener Entscheidung wegen der überlangen Verfahrensdauer zur Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 6 der Konvention kam, urteilte er, es liege auch ein Verstoß gegen Art. 13 der Konvention – Recht auf wirksame Beschwerde – vor, weil keiner der von der deutschen Bundesregierung in jenem Verfahren ins Feld geführten vier innerstaatlichen Rechtsbehelfe zur Gewährleistung eines zügigen zivilgerichtlichen Verfahrens (Verfassungsbeschwerde, Dienstaufsichtsbeschwerde, Schadensersatzklage wegen Amtspflichtverletzung des die Sache dilatorisch behandelnden Richters und schließlich ein außerordentlicher, ungeschriebener Rechtsbehelf in Gestalt einer Untätigkeitsbeschwerde), weil also insoweit keiner der derzeit gegebenen deutschen Rechtsbehelfe als wirksam im Sinne von Art. 13 der Konvention angesehen werden könne. Die beste Lösung sei insoweit ein präventiver Rechtsbehelf zur Beschleunigung von Verfahren, weil er die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 der Konvention verhindere und sie nicht nur nachträglich wiedergutmache. Schließlich ermutigt der Gerichtshof Deutschland ausdrücklich zu einer schnellen Verabschiedung eines Gesetzes mit Vorschriften, wie sie mit dem kurz vor der Bundestagswahl im September 2005 vorgelegten Gesetzentwurf zur Einführung einer neuen Untätigkeitsbeschwerde beabsichtigt gewesen seien; Hinweise darauf, so der Gerichtshof in seinem Urteil vom 8. Juni 2006, daß diese Initiative aufgegeben worden sei, bestünden nicht. Wir werden an späterer Stelle untersuchen müssen, ob diese hoffnungsvolle Erwartung des Straßburger Gerichtshofs wirklich gerechtfertigt war.

b) Konkrete Anweisungen in Einzelfällen

In einzelnen Urteilen hat der Straßburger Gerichtshof auch jenseits der beabsichtigten Behebung struktureller Probleme, also bei der Entscheidung über die Folgen von Rechtsverletzungen in singulären Fallkonstellationen, dem beklagten Staat ausdrückliche Handlungsanweisungen gegeben.

aa) Das Görgülü-Urteil des Straßburger Gerichtshofs

Einen solchen Fall, in dem der Gerichtshof die Wahl der Mittel zur Umsetzung der Entscheidung nicht allein dem beklagten Staat, also Deutschland, überlassen hat, stellt das Verfahren Görgülü ./. Deutschland dar. Es ging in jenem Fall um das Sorge- und Umgangsrecht eines in Deutschland lebenden türkischen Vaters für sein und mit seinem leiblichen Kind, das von der Kindesmutter zur Adoption freigegeben und in eine Pflegefamilie aufgenommen worden war. Die deutschen Gerichte hatten dem Kindesvater den Umgang mit seinem Sohn und das Sorgerecht für ihn verweigert. Der Straßburger Gerichtshof entschied indessen durch Urteil vom 26. Februar 2004, hierdurch werde das Recht des Kindesvaters auf Achtung seines Familienlebens gem. Art. 8 der Konvention verletzt. In jener Entscheidung führte der Gerichtshof u. a. aus: „Der Gerichtshof weist darauf hin, dass sich die Hohen Vertragsparteien in Art. 46 EMRK verpflichtet haben, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen, wobei das Ministerkomitee dessen Durchführung überwacht. Daraus folgt u. a., dass ein Urteil, in dem der Gerichtshof eine Verletzung feststellt, den beklagten Staat rechtlich nicht nur zur Zahlung der als gerechte Entschädigung zugesprochenen Beträge an den Betroffenen, sondern auch dazu verpflichtet, unter Aufsicht des Ministerkomitees allgemeine oder individuelle Maßnahmen in seiner Rechtsordnung zu treffen, um die vom Gerichtshof festgestellte Verletzung abzustellen und den Folgen so weit wie möglich abzuhelfen. Im Übrigen ist der beklagte Staat vorbehaltlich der Überwachung durch das Ministerkomitee in der Wahl der Mittel, mit denen er seinen rechtlichen Verpflichtungen nach Art. 46 EMRK nachkommen will, frei, sofern sie mit den Schlussfolgerungen vereinbar sind, zu denen der Gerichtshof in seinem Urteil gelangt. Das bedeutet im vorliegenden Fall, dass dem Beschwerdeführer mindestens der Umgang mit seinem Kind ermöglicht werden muss.“ Letztlich ist es dieser letzte, von mir hervorgehobene Satz in der Görgülü-Entscheidung des Straßburger Gerichtshofs, der dem deutschen Staat eine ganz konkrete Handlungsanweisung auferlegt hat, gewesen, der zu einer für das deutsche Recht richtungsweisenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe vom 14. Oktober 2004 geführt hat. Mit dieser Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht die Rechtskraftwirkung des Art. 46 EMRK deutlich relativiert und ein klares Spannungsverhältnis zum Straßburger Gerichtshof begründet:

bb) Der Görgülü-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts

Das Bundesverfassungsgericht bestätigt in seinem Beschluss vom 14. Oktober 2004 zunächst noch einmal seinen bereits früher vertretenen Standpunkt, wonach die EMRK, die der deutsche Bundesgesetzgeber in das deutsche Recht transformiert und ihr einen entsprechenden Rechtsanwendungsbefehl erteilt habe, in der deutschen Rechtsordnung im Range eines (einfachen) Bundesgesetzes stehe. Diese Rangzuweisung führe dazu, dass deutsche Gerichte die Konvention wie anderes Gesetzesrecht des Bundes auch im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden hätten. Einen unmittelbar verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab bildeten die Gewährleistungen der EMRK aber nicht. Die Gewährleistungen der Konvention würden jedoch die Auslegung der deutschen Grundrechte und die rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes beeinflussen. Der Text der Konvention und die Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs dienten auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen, sofern dies nicht zu einer Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führe. Auch wenn das Grundgesetz die deutsche öffentliche Gewalt programmatisch auf die internationale Zusammenarbeit und auf die europäische Integration festgelegt habe, verzichte es doch nicht auf die in dem letzten Wort der deutschen Verfassung liegende Souveränität. Aus Art. 46 der Konvention folge, dass die Urteile des Gerichtshofs für die an dem Verfahren beteiligten Parteien verbindlich seien und damit auch begrenzte materielle Rechtskraft hätten. Die materielle Rechtskraft im Individualbeschwerdeverfahren sei durch die personellen, sachlichen und zeitlichen Grenzen des Streitgegenstandes begrenzt. In der Sachfrage erlasse der Gerichtshof ein Feststellungsurteil darüber, ob die betroffene Vertragspartei die Konvention gewahrt oder sich in Widerspruch zu ihr gesetzt habe; eine kassatorische Entscheidung, die die angegriffene Maßnahme der Vertragspartei unmittelbar aufheben würde, ergehe hingegen nicht, mit anderen Worten: Der Straßburger Gerichthof könne keinen Verwaltungsakt, kein Urteil und keine Rechtsnorm aufheben. Regelmässig könne nur die betroffene Vertragspartei, also der beklagte Staat, beurteilen, welche rechtlichen Handlungsmöglichkeiten in der nationalen Rechtsordnung für die Umsetzung des Entscheidungsausspruchs bestünden. Verwaltungsbehörden und Gerichte könnten sich nicht unter Berufung auf eine Entscheidung des Gerichtshofs von der durch das Grundgesetz garantierten rechtsstaatlichen Kompetenzordnung und von der Bindung an Gesetz und Recht lösen. Zur Bindung an Gesetz und Recht gehöre aber auch die Pflicht zur Berücksichtigung der Gewährleistungen der Konvention und des Straßburger Gerichtshofs, was zumindest erfordere, dass die entsprechenden Texte und Judikate zur Kenntnis genommen würden und in den Willensbildungsprozeß des jeweiligen Entscheidungsträgers (Gesetzgeber, Behörde, Gericht) einfließen müßten. Hingegen sei einem Urteil des Straßburgers Gerichtshofs, welches feststelle, daß die deutsche Gerichtsentscheidung die Konvention verletze, keine die Rechtskraft dieser Entscheidung beseitigende Wirkung beizumessen; mit anderen Worten soll also der Straßburger Richterspruch die rechtskräftige deutsche Gerichtsentscheidung unangetastet lassen. Im konkret zu entscheidenden Fall habe das deutsche Oberlandesgericht, welches dem Beschwerdeführer nach wie vor den Umgang mit seinem Kind verweigere, sich nicht hinreichend mit der Entscheidung des Straßburger Gerichtshofs auseinandergesetzt. Wenn ich, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Wiedergabe dieses Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Oktober 2004 relativ breiten Raum gegeben habe – eine Anmerkung in diesem Zusammenhang: Insgesamt mußte das Bundesverfassungsgericht in der Sache Görgülü viermal entscheiden, weil sich eine deutsche Behörde und ein deutsches Oberlandesgericht beharrlich weigerten, dem Urteil des Straßburger Gerichtshofs Rechnung zu tragen – wenn ich also den Beschlusstext recht umfänglich zitiert habe, so deshalb, um Ihnen zu verdeutlichen, in welchem Maße das Bundesverfassungsgericht – auch wenn es zum guten Schluß hervorhebt, das nationale Gericht müsse den Straßburger Richterspruch bei seiner Entscheidungsfindung berücksichtigen – dem Urteil des Gerichtshofs letztlich doch nur eingeschränkte Bedeutung beimisst und zugleich den in anderen Fällen zur Entscheidung berufenen deutschen Instanzrichter vor die nahezu unlösbar erscheinende Aufgabe stellt, gleichsam einen Spagat zwischen dem Vorrang des deutschen Rechts einerseits und der gleichzeitigen Berücksichtigung der Konvention und der Entscheidungen des Straßburger Gerichtshofs andererseits zu vollziehen.

cc) Kritik am Standpunkt des Bundesverfassungsgerichts

In der juristischen Fachwelt ist der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts sehr unterschiedlich aufgenommen worden und auch Gegenstand von großem öffentlichen Interesse gewesen. In einem Interview mit dem Spiegel, einer großen deutschen Wochenzeitschrift, beklagte Luzius Wildhaber, der Beschluss aus Karlsruhe tue ihm weh, und Georg Ress, der damals noch amtierende deutsche Richter am Straßburger Gerichtshof, äußerte in diplomatischer Weise die Befürchtung, der Karlsruher Beschluss sei im Ausland mißverständlich. Um es mit meinen Worten weniger diplomatisch zu formulieren: Besonders in den jüngeren Konventionsstaaten in Mittel- und Osteuropa könne die Karlsruher Entscheidung gleichsam als Freibrief dafür verstanden werden, den Konventionsschutz auf großer Front aufzuweichen. Namhafte Autoren haben mit ehrenwerten, die Karlsruher Richter bislang aber nicht überzeugenden Argumenten versucht, dem Bundesverfassungsgericht entgegenzutreten: Ein Konventionsrecht habe als allgemeine Regel des Völkerrechts Übergesetzesrang; innerhalb der deutschen Verfassung komme einem Konventionsrecht formeller Verfassungsrang zu. Gegenstimmen von ebensolchem Gewicht haben aber die Karlsruher Entscheidung als notwendige Klarstellung des Verhältnisses zwischen Konventions- und nationalem Recht durchaus begrüßt, und mancher deutsche Richter, der um seine richterliche Unabhängigkeit fürchtete, wird die Zustimmung zur Entscheidung aus Karlsruhe mit einiger Freude aufgenommen haben. Die Diskussion ist noch nicht abgeschlossen und wird gewiß stets aufs Neue angefacht, wenn sich der deutsche Richter vor die Frage gestellt sieht, in welcher Weise er die Straßburger Entscheidungen zu beherzigen habe.

c) Konkrete Befolgung der Urteile des Straßburger Gerichtshofs

Schauen wir uns abschließend in der Praxis den konreten Vollzug der oben geschilderten Fälle aus jüngerer Zeit an, in denen vom Straßburger Gerichtshof eine Konventionsverletzung durch den deutschen Staat festgestellt wurde. Schon seit längerem informiert das Bundesjustizministerium die Öffentlichkeit in jährlichen Berichten über die Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs in Verfahren gegen Deutschland und hat seinem im laufenden Jahr erstellten Bericht vom Juni 2008, was gewiß zu begrüßen ist, erstmals ein Kapitel beigefügt, in dem die Umsetzung der gegen Deutschland ergangenen Entscheidungen nachgezeichnet wird.

aa) Zahlung einer Entschädigung/ Urteilsübersetzung

Diesem Bericht zufolge informiert Deutschland das Ministerkomitee, welches neben seinem eigenen Sekretariat von einer besonderen Vollstreckungsabteilung des Sekretariats des Europarats, unterstützt wird, dem „Department for the Execution of Judgements of the European Court of Human Rights“, über die Zahlung einer gerechten Entschädigung, sofern der Gerichtshof dem Beschwerdeführer eine solche zuerkannt hat oder sie etwa im Rahmen einer gütlichen Einigung zugesagt wurde. Außerdem wird als generelle Maßnahme der Bundesregierung die Übersetzung aller Urteile des Gerichtshofs in deutschen Sachen veranlasst, dem Europarat zur Veröffentlichung im Internet zur Verfügung gestellt sowie allen Gerichten und Behörden, die mit dem der Beschwerde zugrundeliegenden Fall betraut waren, bekannt gemacht. Es sei hier jedoch die kritische Frage aufgeworfen, ob und in welcher Weise sich beispielsweise diejenigen, die die überlange Dauer von Verfahren zu verantworten haben, wirklich von derartigen Bekanntmachungen beeindrucken lassen werden.

bb) Sonstiger Vollzug

(1) Was den Fall Görgülü anlangt, in dem es um die Kontakte des Vaters zu seinem Kind ging, dürften mittlerweile alle Anforderungen des oben näher geschilderten Urteils vom 26. Februar 2004 erfüllt sein. Natürlich hat der Kindesvater die ihm zugesprochene Entschädigung unmittelbar nach Eintritt der Endgültigkeit des Straßburger Urteils erhalten. Was für ihn aber noch viel wichtiger ist: Nachdem in den vergangenen Jahren schon große Fortschritte im Umgang des Vaters mit seinem Sohn erzielt werden konnten, hat Anfang dieses Jahres das zuständige Amtsgericht dem Vater einstweilig die alleinige elterliche Sorge übertragen; das Kind lebt nun beim Vater, der, übrigens ebenso wie die Pflegeeltern, vom Jugendamt beraten und unterstützt wird.

(2) Weiter zu dem oben angesprochenen Fall Sürmeli, in dem der Gerichtshof die Forderung nach einem wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelf in Deutschland zur Gewährleistung eines zügigen Verfahrens formuliert hatte. Zwei Jahre nach dem damaligen Urteilsspruch, in ihrem Bericht vom Juni 2008, mußte die Bundesregierung einräumen, es bestehe zwischen ihr, den beteiligten Kreisen sowie dem Deutschen Bundestag noch Beratungsbedarf über die Ausgestaltung eines Rechtsbehelfs im Sinne der Entscheidung des Straßburger Gerichtshofs; die Arbeiten an einem wirksamen nationalen Rechtsbehelf hätten deshalb noch nicht abgeschlossen werden können. Zu den angesprochenen „beteiligten Kreisen“ zählen unter anderen die Anwaltschaft, die die Einführung einer Untätigkeitsbeschwerde begrüßt, und der insbesondere die Richter aus der ordentlichen Justiz vertretende Deutsche Richterbund, der einen solchen zusätzlichen Rechtsbehelf für überflüssig hält.

IV. Schluss:

Das Verfahren Herbst ./. Deutschland Ich vermag dem, liebe Kolleginnen und Kollegen, bis auf ein gleichsam wort- und hilfloses Schulterzucken nichts hinzufügen – außer der Schilderung des die Gemüter zu Recht erregenden Falles Herbst ./. Deutschland, in dem der Straßburger Gerichtshof am 11. Januar 2007 ein Urteil erlassen hat, welches, soweit ersichtlich, noch seiner endgültigen Umsetzung in Deutschland bedarf: Ein Student der Rechtswissenschaft wollte im Jahre 1979, also vor nunmehr knapp 30 Jahren, sein Staatsexamen ablegen, erzielte aber bei den schriftlichen Arbeiten nur mangelhafte und ungenügende Leistungen. Es schloß sich ein verwaltungsgerichtliches Verfahren erster Instanz an, welches 6 Jahre dauerte. Ich muß an dieser Stelle für unsere italienischen und französischen Kollegen einflechten, daß es nach deutschem Recht grundsätzlich möglich ist, Entscheidungen der Behörden, die für die Abnahme staatlicher Prüfungen zuständig sind, einer verwaltungsgerichtlichen Kontrolle zu unterziehen mit dem Ziel, eine Neubewertung der mißlungenen Prüfungsarbeiten zu erstreiten, etwa dann, wenn eine vom Prüfungskandidaten erarbeitete Lösung vom Prüfer als falsch bewertet wird, obwohl sie in Wahrheit zumindest vertretbar ist. Der schon vor dem Verwaltungsgericht unterlegene Prüfungskandidat verfolgte sein Begehren durch alle Instanzen ohne Erfolg weiter. In der gleichen Angelegenheit wandte sich der durchgefallene Kandidat auch an die Zuvilgerichte mit dem Ziel, den Staat auf Schadensersatz wegen Amtspflichtverletzung in Anspruch zu nehmen: Unter Bezugnahme auf die Gutachten von 15 Rechtswissenschaftlern machte er geltend, seine schriftlichen Arbeiten seien fehlerhaft bewertet worden. Das Nichtbestehen der Prüfung habe bei ihm eine psychische Erkrankung mit der Folge ausgelöst, daß er sein Studium nicht habe beenden und den von ihm erstrebten juristischen Beruf nicht habe ergreifen können, was zu einem Verdienstausfall von mehreren hunderttausend Mark geführt habe. Dieser Prozeß zog sich ebenfalls über alle Instanzen und eine Zeitspanne von sage und schreibe 18 Jahren und 9 Monaten hin. Endlich sprach ein Oberlandesgericht, das aufgrund eines Sachverständigengutachtens zu dem Ergebnis kam, die Bewertung der beiden Examensarbeiten sei rechtswidrig fehlerhaft gewesen und die Prüfer hätten ihre Amtspflichten verletzt, dem Kläger einen Schadensersatz in Höhe von 1500 Deutschen Mark, umgerechnet also etwa 750 €, und auch ein relativ geringes Schmerzensgeld zu. Nach Abschluß des Zivilprozesses rief der Kläger im Jahre 2002 den Straßburger Gerichtshof an und rügte, über seine Klagen sei unter Verletzung von Art. 6 Abs. 1 der Konvention nicht innerhalb angemessener Frist entschieden worden. Der Gerichtshof wies in seinem Urteil vom 11. Januar 2007 – nach knapp 5jähriger Dauer des dortigen Verfahrens – die Beschwerde als unzulässig zurück, soweit sie eine überlange Verfahrensdauer vor den Verwaltungsgerichten rügte, weil Art. 6 Abs. 1 der Konvention auf Verfahren, die im wesentlichen die Bewertung von Kenntnissen und Erfahrungen in Schul- oder Hochschulprüfungen beträfen, keine Anwendung finde. Hingegen hatte der Kläger in Bezug auf die Rüge der überlangen Verfahrensdauer vor den Zivilgerichten teilweise Erfolg. Zwar könne der Gerichtshof keine Vermutungen darüber anstellen, wie sich die berufliche Laufbahn des Klägers entwickelt hätte, wenn die deutschen Gerichte rechtzeitig über seine Schadensersatzklagen entschieden hätten. Wegen des vom Kläger erlittenen immateriellen Schadens sei ihm aber eine Summe in Höhe von 10.000 € zuzusprechen. Obwohl der Kläger ein erhebliches Interesse an einem schnellen Abschluss des Zivilprozesses gehabt habe, habe das zuständige nationale Gericht erst nach sieben Jahren die Anhörung von Sachverständigen angeordnet. Insgesamt sei mit einer Verfahrensdauer von mehr als 18 Jahren die in Art. 6 Abs. 1 der Konvention normierte angemessene Frist überschritten. Wir können vermutlich nur annähernd erahnen, in welcher Weise dieses ganz außergewöhnlich lange Verfahren, welches sicher nicht als Ruhmesblatt in die deutsche Rechtsgeschichte eingehen wird, das gesamte Leben des Klägers, der übrigens mittlerweile das Pensionsalter erreicht hat, überschattet haben wird; vielleicht ist es sogar zu seinem einzigen Lebensinhalt geworden. Am Ende steht nach drei Jahrzehnten lediglich eine Entschädigungssume, für die der Kläger sich vielleicht einen gebrauchten Kleinwagen wird kaufen können. Auch dies sollten wir bedenken, wenn wir, über die juristische Dimension eines solchen Falles hinausgehend, den Vollzug der Entscheidungen des Straßburger Gerichtshofs diskutieren.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.