Relazione tedesca Spira – Prof. Dr. Ulrich Stelkens – 29/9/2017
Rechtsstreitigkeiten zwischen juristischen Personen des Öffentlichen Rechts vor dem Verwaltungsgericht,
Univ.-Prof. Dr. Ulrich Stelkens
Einführung
Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts
– war schon vor 1949 eine klassische Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit, deren Zuständigkeit nach 1949 (auch) in dieser Hinsicht erheblich ausgebaut wurde;
– war auch schon vor 1949 eine klassische Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit, die aber erst nach 1949 zu ihrer vollen Entfaltung kam;
– ist eine Aufgabe, die daneben auch von den Gerichten anderer Gerichtszweige wahrgenommen wird, insbes. von der ordentlichen Gerichtsbarkeit (v. a. in Staatshaftungssachen und im Rahmen anderer Sonderzuständigkeiten) und den Sozialgerichten (insbes. in Bezug auf Ausgleichsansprüche zwischen Sozialleistungsträgern).
Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) § 40
(1) Der Verwaltungsrechtsweg ist in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art gegeben, soweit die Streitigkeiten nicht durch Bundesgesetz einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen sind. Öffentlich-rechtliche Streitigkeiten auf dem Gebiet des Landesrechts können einem anderen Gericht auch durch Landesgesetz zugewiesen werden..
(2) Für vermögensrechtliche Ansprüche aus Aufopferung für das gemeine Wohl und aus öffentlich-rechtlicher Verwahrung sowie für Schadensersatzansprüche aus der Verletzung öffentlich-rechtlicher Pflichten, die nicht auf einem öffentlich-rechtlichen Vertrag beruhen, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben; dies gilt nicht für Streitigkeiten über das Bestehen und die Höhe eines Ausgleichsanspruchs im Rahmen des Artikels 14 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes. Die besonderen Vorschriften des Beamtenrechts sowie über den Rechtsweg bei Ausgleich von Vermögensnachteilen wegen Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte bleiben unberührt.
Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts
– nimmt in der Tätigkeit deutscher Verwaltungsgerichte durchaus eine bedeutsamen Stellenwert ein (allerdings: keine Statistiken, aus denen sich der Anteil derartiger Streitigkeiten an der Gesamtbelastung der Verwaltungsgerichte entnehmen ließe)
– wird dennoch vielfach als eher „zweckwidrige“ Inanspruchnahme der Verwaltungsgerichtsbarkeit gesehen, deren eigentliche Aufgabe es ist, den Einzelnen vor Verwaltungswillkür zu schützen.
I. Verfassungsrechtlicher Rahmen für verwaltungsgerichtliche Streitigkeiten zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts
1. Der Verfassungsrechtsstreit als Vorbild für verwaltungsgerichtliche Streitigkeiten zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts
2. Kernauftrag der Verwaltungsgerichtsbarkeit: Schutz des Einzelnen
II. Arten verwaltungsgerichtlicher Streitigkeiten zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts
1. Verfassungsrechtsstreit als Vorbild …
Verfassungsgeschichtliche Tradition einer „Staatsgerichtsbarkeit“ I
Art. 76 der Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871: Streitigkeiten zwischen Bundesstaaten und Verfassungsstreitigkeiten innerhalb der Bundesstaaten werden vom Reichsrat entschieden.
– Streitigkeiten zwischen Bundesstaaten (nicht zwischen Reich und Bundesstaaten)
– Verfassungsstreitigkeiten innerhalb der Bundesstaaten = Insbesondere Streitigkeiten zwischen Parlament und (oft monarchischer) Regierung
– Reichsrat: Politisches Organ mit Übergewicht von Preußen
Verfassungsgeschichtliche Tradition einer „Staatsgerichtsbarkeit“ II
Art. 19 der Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 (sog. Weimarer Reichsverfassung – WRV):
Über Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes, in dem kein Gericht zu ihrer Erledigung besteht, sowie über Streitigkeiten nichtprivatrechtlicher Art zwischen verschiedenen Ländern oder zwischen dem Reiche und einem Lande entscheidet auf Antrag eines der streitenden Teile der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich, soweit nicht ein anderer Gerichtshof des Reichs zuständig ist.
Verfassungsgeschichtliche Tradition einer „Staatsgerichtsbarkeit“ III
Art. 19 WRV umfasste:
– Zwischenländerstreitigkeiten
– Erstmals: Bund-Länderstreitigkeiten
– Mit „Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes“ Streitigkeiten zwischen Landesparlament und Landesregierung und sonstige „Organstreitigkeiten“ Klagen von Kommunen gegen Gesetze, die sie in ihrem Recht auf kommunale Selbstverwaltung beeinträchtigten
– Nicht: Organstreitigkeiten auf Reichsebene
Verfassungsgeschichtliche Tradition einer „Staatsgerichtsbarkeit“ umfasst damit
– Föderale Streitigkeiten: Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern sowie zwischen Ländern
– Organstreitigkeiten: Streitigkeiten zwischen den obersten Staatsorganen des Bundes / der Länder über ihre sich aus der Bundes- bzw. Landesverfassung ergebenden wechselseitigen Rechte und Pflichten
– Kommunale Verfassungsbeschwerden: Insbesondere Kontrolle der Bundes- oder Landesgesetzgebung auf ihre Vereinbarkeit mit der Garantie kommunaler Selbstverwaltung auf Antrag einer Kommune
„Staatsgerichtsbarkeit“ vor dem Bundesverfassungsgericht
Grundgesetz Art. 93 (1)
Das Bundesverfassungsgericht entscheidet:
1. über die Auslegung dieses Grundgesetzes aus Anlaß von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch dieses Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind;
3. bei Meinungsverschiedenheiten über Rechte und Pflichten des Bundes und der Länder, insbesondere bei der Ausführung von Bundesrecht durch die Länder und bei der Ausübung der Bundesaufsicht;
4. in anderen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten zwischen dem Bunde und den Ländern, zwischen verschiedenen Ländern oder innerhalb eines Landes, soweit nicht ein anderer Rechtsweg gegeben ist;
4b. über Verfassungsbeschwerden von Gemeinden und Gemeindeverbänden wegen Verletzung des Rechts auf Selbstverwaltung nach Artikel 28 durch ein Gesetz, bei Landesgesetzen jedoch nur, soweit nicht Beschwerde beim Landesverfassungsgericht erhoben werden kann;
Verfassungsgeschichtliche Tradition einer „Staatsgerichtsbarkeit“ führte zur Erkenntnis,
– dass auch Streitigkeiten über Kompetenzen und Befugnisse der einzelnen „Staatsuntergliederungen“ Rechtsstreitigkeiten sind,
– über die Gerichte entscheiden können und sollen
– und die damit nicht (allein) mit Mitteln der Politik zu lösen und zu entscheiden sind,
– weil dies der Sicherung des (verfassungs-)gesetzlich (ausgewogen) ausgestalteten Kompetenzgefüges dient.
Mittelbare Folge: Anerkennung der Existenz „öffentlich-rechtlicher Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art“ i. S. des § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts.
2. Kernauftrag der Verwaltungsgerichtsbarkeit: Schutz des Einzelnen
Grundgesetz Art. 19 (4): Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben. […].
Wird heute als „Systementscheidung“ verstanden:
– Verwaltungsgerichte dienen hiernach v. a. dem – effektiven – Individualrechtsschutz.
– Ausweitung der Zuständigkeiten der Verwaltungsgerichte auf alle (auch nicht individualschützende) öffentlich-rechtlichen Rechtsstreitigkeiten durch § 40 VwGO ist nicht verfassungsrechtlich geboten (aber auch nicht verfassungsrechtlich untersagt).
Was bedeutet die von Art. 19 Abs. 4 GG getroffene Systementscheidung für den Individualrechtsschutz für unser Thema?
– Verwaltungsgerichte dienen vornehmlich dem Grundrechtsschutz
– Juristische Personen des öffentlichen Rechts und ihre Organe und Behörden können sich niemals (bei keiner ihrer Tätigkeiten) auf den Schutz von Grundrechten berufen (BVerfG, 1 BvR 699/06 v. 22.2.2011, Abs. 48 ff. = BVerfGE 128, 226, 245 ff.; BVerfG (K), 2 BvR 470/08 v. 19.7.2016, Abs. 30 = NJW 2016, 3153 Abs. 30) Ausnahmen bei Rundfunkanstalten und Universitäten, bei denen aus den Grundrechten der Rundfunkfreiheit bzw. der Forschungs- und Lehrfreiheit Selbstverwaltungsrechte hergeleitet werden
– Dies schließt nicht aus, dass jPöR einfachrechtlich (z. B. in den Enteignungsgesetzen) dieselben Rechtspositionen gewährt werden, wie sie Privaten als Folge ihrer Grundrechtsträgerschaft gewährt werden – dann wird ihnen auch i.d.R. Rechtsschutz gewährt wie Privaten.
1. Verwaltungsgerichtliche Organstreitigkeiten
– Erste Entscheidungen der Verwaltungsgerichte über sog. „Kommunalverfassungsstreitigkeiten“ schon in den 1950er Jahren: Gegenstand: Konflikte zwischen Bürgermeister und Gemeinderat oder interne Gemeinderatskonflikte (z. B. über Tagesordnung, Ausschluss von Ratsmitgliedern)
– Ausgangsidee: Rechtsbeziehungen zwischen Organen einer juristischen Person des öffentlichen Rechts sind öffentlich-rechtlich geregelt und können damit zu öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten i. S. des § 40 Abs. 1 VwGO führen.
– Leitbild: Verfassungsgerichtlicher Organstreit
– Heute herrschende Meinung: Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG erfasst derartige Streitigkeiten nicht, so dass Rechtsweg für derartige Streitigkeiten nur einfachrechtlich garantiert ist.
In der Praxis betreffen derartige Streitigkeiten nicht mehr nur Kommunen, sondern auch Sozialversicherungsträger, Selbstverwaltungskörperschaften der Wirtschaft, Universitäten etc…
Mittlerweile gibt es solche Streitigkeiten auch auf der Ebene der Staatsverwaltung, etwa zwischen Behördenleitung und Gleichstellungsbeauftragten und ähnlichen Beauftragten über deren Mitwirkungsrechte
2. (Rechts-)Aufsichtsstreitigkeiten
– Jede Maßnahme einer Kommune unterliegt (zumindest) einer staatlichen Rechtsaufsicht a posteriori, die in konkreten einseitigen Rechtsaufsichtsmaßnahmen (Beanstandung oder Aufhebung kommunaler Beschlüsse, Anordnung kommunaler Maßnahmen oder ihre Durchführung im Wege der Ersatzvornahme) münden kann
– Als Rechtsaufsichtsmaßnahmen in diesem Sinne gelten ferner Genehmigungsvorbehalte für Satzungen, Verträge etc.
– Rechtsaufsichtsmaßnahmen, die die Kommune für rechtswidrig hält, können innerhalb bestimmter Fristen von den Kommunen unter Behauptung einer Verletzung ihres Selbstverwaltungsrechts gerichtlich angegriffen werden. Nach Fristablauf werden Rechtsaufsichtsmaßnahmen bestandskräftig.
– Für den Rechtsschutz der Kommune gelten i.d.R. die allgemeinen Regeln der VwGO über die Anfechtungsklage
Ähnliche Grundsätze gelten auch in Bezug auf die Rechtsaufsicht gegenüber anderen Trägern der mittelbaren Staatsverwaltung (Sozialversicherungsträger, Selbstverwaltungskörperschaften der Wirtschaft, Universitäten etc…)
Wichtig: Soweit die Kommunen oder andere Selbstverwaltungsträger (z. B. im Gefahrenabwehrrecht) staatliche Aufgaben wahrnehmen, gibt es gegenüber staatlichen Aufsichtsmaßnahmen i.d.R. keinen Rechtsschutz, da insoweit die Selbstverwaltungsgarantie nicht greift.
Wichtig: Die Länder unter stehen keiner vergleichbaren Rechtsaufsicht durch den Bund. Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern betreffend die Ausführung von Bundesgesetzen sind i.d.R. verfassungsrechtliche Streitigkeiten, über die das Bundesverfassungsgericht entscheidet
3. Streitigkeiten wegen Inanspruchahme juristischer Personen des öffentlichen Rechts aus Normen, die „an sich“ Pflichten von Privaten begründen
Streitigkeiten als Folge einer Inanspruchnahme einer juristischen Person aus Normen, die an sich auf das „Staat-Bürger-Verhältnis“ zugeschnitten sind:
– Abgaben- und Steuerpflichten juristischer Person des öffentlichen Rechts;
– Enteignung einer juristischen Person des öffentlichen Rechts im „normalen“ Enteignungsverfahren
– Verpflichtung einer juristischen Person des öffentlichen Rechts aus baurechtlichen, umweltrechtlichen, straßen(verkehrs-)rechtlichen, gefahrenabwehrrechtlichen Vorschriften;
– Gewährung einer Finanzhilfe/Subvention an eine juristische Person des öffentlichen Rechts nach allgemeinen Regeln, die auch für private Subventionsempfänger gelten
– Beteiligung einer juristischer Person des öffentlichen Rechts als Bieter in einem Vergabeverfahren ….
Hauptprobleme in diesen Fällen:
Wann ist eine juristische Person des öffentlichen Rechts eigentlich als aus allgemeinen, an sich auf das Staat-Bürger-Verhältnis zugeschnittenen Normen als verpflichtet anzusehen – und wann gelten (nur) besondere (ggf. ungeschriebene) verwaltungsorganisationsrechtliche Regeln?
Wann ist eine juristische Person des öffentlichen Rechts der „Hoheitsgewalt“ einer anderen juristischen Person des öffentlichen Rechts wie ein „normaler Bürger“ unterworfen?
Gelten bei der Anwendung der „an sich“ auf das Staat-Bürger-Verhältnis zugeschnittenen auf juristische Personen des öffentlichen Rechts im Hinblick auf deren fehlende Grundrechtsfähigkeit Besonderheiten?
4. Streitigkeiten zwischen gleichgeordneten juristischen Personen des öffentlichen Rechts
Streitigkeiten über die Anwendbarkeit und Auslegung von Vorschriften, die speziell die Abgrenzung von Zuständigkeiten und die Finanzbeziehungen zwischen einzelnen juristischen Personen des öffentlichen Rechts regeln:
Beispiele:
Streitigkeiten im Infrastrukturrecht: Hat eine Gemeinde Anspruch auf Beteiligung des Bundes und des Landes an den Kosten, die dadurch entstehen, dass die kommunale Entwässerungsanlage auch das Niederschlagswasser aufnehmen muss, das von einem komplexen Kreuzungsbauwerk abfließt, an dem sich eine Land- und eine Bundesstraße mit einer kommunalen Straßenbahn kreuzen?
Streitigkeiten aus vertraglichen Regelungen zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts (z. B. zur Gründung eines Zweckverbands)
Streitigkeiten über die Anwendbarkeit und Auslegung von Vorschriften, die speziell die Abgrenzung von Zuständigkeiten und die Finanzbeziehungen zwischen einzelnen juristischen Personen des öffentlichen Rechts
– werden grundsätzlich als Streitigkeiten zwischen „gleichgeordneten“ Verwaltungsträgern verstanden, auch wenn z. B. eine Kommune ein Land oder den Bund verklagt: Keine allgemeine Hierarchie in der deutschen Verwaltung;
– sind oft indirekte Folge einer „Herabzonung“ von Verwaltungsaufgaben auf die kommunale Ebene, weil sich dann neue Fragen der Abgrenzung der (Finanzierungs-)Zuständigkeiten stellen;
– häufen sich in Zeiten „knapper Kassen“ und allgemeiner Sparmaßnahmen – paradoxerweise, weil sie die Kosten des Verwaltungsvollzugs insgesamt (um die Kosten des Rechtsstreits) erhöhen, ohne die öffentlichen Mittel insgesamt zu mehren.
Fazit
– Die Verwaltungsgerichte werden durch Rechtsstreitigkeiten zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts in durchaus nennenswerter Weise belastet.
– Rechtsstreitigkeiten zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts unterscheiden sich von „normalen“ Streitigkeiten zwischen Bürger und Verwaltung erheblich, auch weil oft nur schwer zugängliches, schlecht „erschlossenes“ Recht anwendbar ist.
– Rechtsstreitigkeiten zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts sind oft indirekte Folge schlecht gemachter Verwaltungsreformen und strikter Sparpolitik.
– Generell sollte mehr über Möglichkeiten eines „Rückschnitts“ derartiger Streitigkeiten zu Gunsten „verwaltungsinterner“ Streitlösungsmechanismen nachgedacht werden.