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Relazione tedesca del dott. Joachim Becker – Trento – 3/10/2008

Der Vollzug der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Deutschland

Dr. Joachim Becker, Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht Münster

I. Einleitung

Im Sommer des Jahres 2001 reisten Francesco Mariuzzo, Pierre Vincent, unser österreichischer Kollege Erwin Ziermann und ich nach Straßburg. Wir vier bildeten damals den Vorstand der Europäischen Verwaltungsrichtervereinigung, also des im Jahre 2000 gegründeten europäischen Dachverbandes, in dem die nationalen Verwaltungsrichterverbände zusammengeschlossen sind. Zweck der erwähnten Reise im Sommer 2001 war ein Besuch beim damaligen Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Luzius Wildhaber, dem namhaften und über die Grenzen seines Heimatlandes hinaus geschätzten Schweizer Völkerrechtler, dem wir die Europäische Verwaltungsrichtervereinigung vorstellen wollten. Luzius Wildhaber empfing uns ausgesprochen herzlich und freundlich und ließ uns spüren, daß wir für ihn Kollegen waren, Kollegen, die wie er und sein Gerichtshof auch zwar gelegentlich mit aufsehenerregenden und für die Rechtsentwicklung bedeutenden Prozessen betraut waren, aber auch mit mancherlei Alltagsarbeit zu kämpfen hatten, mit zeitraubender Lektüre von Unwichtigem, mit Querulanten, mit ständig steigenden Zahlen von Verfahrenseingängen, nicht zuletzt mit der überlangen Dauer der Verfahren. So erfuhren wir durch ihn auch von dem bedrückenden Umstand, daß der Straßburger Gerichtshof derart viele Beschwerden wegen einer Verletzung von Art. 6 EMRK – Recht auf ein faires Verfahren innerhalb angemessener Frist – zu bearbeiten hatte, daß er selbst nicht mehr in der Lage sei, innerhalb angemessener Frist zu entscheiden. Als wir uns schließlich vom Präsidenten verabschiedeten, gab er uns mit auf den Weg, gerade und auch die Verwaltungsrichter hätten eine besondere Verantwortung dafür, daß die Entscheidungen seines Gerichtshofs beachtet und umgesetzt würden. Dies zu versprechen, schien unserer Delegation leicht; wir werden jedoch sehen, wie schwierig es sich in Wahrheit gestaltet, den Straßburger Entscheidungen auf innerstaatlicher Ebene Geltung zu verschaffen.

II. Von Deutschland zu verantwortende Menschenrechtsverletzungen in Zahlen

Den Berichten der deutschen Bundesregierung zufolge, die die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Gegenstand haben, wurden in den Jahren 2004 und 2005 jeweils etwa 40.000 Individualbeschwerden vor dem Gerichtshof erhoben, im Jahre 2006 waren es ca. 50.500, im Jahre 2007 bereits 54.000 Individualbeschwerden, eine geradezu schwindelerregende Verfahrensflut, wenn man bedenkt, daß im Jahre 1955 lediglich 138 und auch noch Mitte der 80er Jahre lediglich 600 Individualbeschwerden registriert worden waren. Bei allem Anstieg der Eingangszahlen insgesamt ist jedoch in den jüngsten Jahren die Anzahl der gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichteten Beschwerden von ca. 2500 Beschwerden im Jahre 2004 über jeweils etwa 2.100 Beschwerden in den Jahren 2005 und 2006 auf etwa 1500 Beschwerden im Jahre 2007 zurückgegangen. Der größte Teil der Beschwerden wird vom Gerichtshof allein aufgrund der vom Beschwerdeführer vorgelegten Unterlagen schon für unzulässig erklärt. Das gilt auch für die gegen Deutschland gerichteten Beschwerden, die wegen offensichtlicher Unzulässigkeit gar nicht erst der Bundesregierung zur Stellungnahme übersandt werden. Lediglich in etwa 2 % der Fälle erfolgt gemäß der Verfahrensordnung des Gerichtshofs eine förmliche Aufforderung zur Stellungnahme. In den Individualbeschwerdeverfahren gegen Deutschland, in denen die deutsche Regierung zur Stellungnahme aufgefordert wurde, hat der Gerichtshof im Jahre 2004 in 12 Fällen eine abschließende Entscheidung getroffen, im Jahre 2005 in 27 Fällen, im Jahre 2006 in 22 Fällen und im Jahre 2007 in 75 Fällen. Im Jahre 2004 hat der Gerichtshof eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention in 5 Fällen festgestellt, im Jahre 2005 in 10 Fällen, im Jahre 2006 in 6 Fällen und im Jahre 2007 in 7 Fällen. 7 aus der Sicht der Beschwerdeführer erfolgreiche Fälle. Angesichts der Vielzahl der Verfahren vor dem Straßburger Gerichtshof vielleicht eine verschwindend geringe Zahl – für einen Rechtsstaat wie Deutschland aber eben 7 Fälle zu viel.

III. Vollzug der Entscheidungen des Straßburger Gerichtshofs in Deutschland

Damit sind wir schon beim Kern meines Themas angelangt: Wie werden die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in denen Konventionsverletzungen festgestellt wurden, in Deutschland umgesetzt? Dass Deutschland – ebenso wie alle anderen Konventionsstaaten auch – den Urteilen des Straßburger Gerichtshofs nachzukommen hat, ergibt sich aus Art. 46 EMRK, der in seinem Absatz 1 bestimmt: „Die Hohen Vertragsparteien verpflichten sich, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen.“, und der in seinem Absatz 2 regelt: „Das endgültige Urteil des Gerichtshofs ist dem Ministerkomitee zuzuleiten; dieses überwacht seine Durchführung.“

1. Gerechte Entschädigung nach Art. 41 EMRK

Im Allgemeinen beschränkt sich der Straßburger Gerichtshof auf die Feststellung einer Konventionsverletzung und verurteilt möglicherweise zur Zahlung einer gerechten Entschädigung nach Art. 41 der Konvention. Die Auszahlung dieser Entschädigung an den jeweiligen Beschwerdeführer hat, soweit ersichtlich, was Deutschland betrifft zu keinen nennenswerten Problemen geführt.

2. Wirkung des Urteils nach Art. 46 EMRK

In jüngerer Zeit ist der Gerichtshof aber neben der Feststellung einer Konventionsverletzung mehrfach auch dazu übergegangen, ausdrückliche, präzise Anordnungen zu treffen, die das Ermessen des betroffenen Staates bei der Frage, wie die Straßburger Entscheidung zu vollziehen sei, deutlich einschränken:

a) Pilot judgements zur Behebung struktureller Mängel; Sürmeli-Urteil des Straßburger Gerichtshofs

Der Gerichtshof tut dies zum einen in sog. pilot-judgements, in Musterverfahren also, die große Breitenwirkung haben und die durch Musterentscheidungen abgeschlossen werden, in denen strukturelle Mängel in dem betreffenden Konventionsstaat aufgezeigt und ganz konkrete Anweisungen zu deren Behebung gegeben werden. Bekannte Beispiele sind etwa die Verfahren Broniowski ./. Polen oder Scordino ./. Italien. Mit den pilot-judgements soll eine möglichst schnelle und wirksame Lösung des strukturellen Problems erreicht und nicht zuletzt – gleichsam als ein Akt prozessualer Notwehr, wie Christoph Grabenwarter, Mitglied des österreichischen Verfassungsgerichtshofs, es ausdrückt – eine immer wiederkehrende, arbeitsaufwendige, das Funktionieren des Gerichtshofs lähmende Beschäftigung mit stets denselben Fragen verhindert werden. Der Gerichtshof entspricht mit dieser Entscheidungspraxis einer Empfehlung des den Vollzug der Urteile überwachenden Ministerkomitees, welches in seiner Entschließung vom 12. Mai 2004 den Gerichtshof aufgefordert hatte, auf erkennbare strukturelle Probleme und ihre Ursachen hinzuweisen. Auch die Entscheidung der Großen Kammer des Straßburger Gerichtshofs vom 8. Juni 2006 in Sachen Sürmeli ./. Deutschland ist nach meiner Auffassung als ein solches pilot judgement zu verstehen. Es geht in jenem Fall um einen in Deutschland lebenden jungen Türken, der auf dem Weg zur Schule einen Unfall erlitten und der im Zeitpunkt der Entscheidung des Straßburger Gerichtshofs bereits seit 16 Jahren und 7 Monaten vergeblich auf eine gerichtliche Klärung der von ihm geltend gemachten Schadensersatzansprüche gewartet hatte. Unabhängig davon, daß der Gerichtshof in jener Entscheidung wegen der überlangen Verfahrensdauer zur Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 6 der Konvention kam, urteilte er, es liege auch ein Verstoß gegen Art. 13 der Konvention – Recht auf wirksame Beschwerde – vor, weil keiner der von der deutschen Bundesregierung in jenem Verfahren ins Feld geführten vier innerstaatlichen Rechtsbehelfe zur Gewährleistung eines zügigen zivilgerichtlichen Verfahrens (Verfassungsbeschwerde, Dienstaufsichtsbeschwerde, Schadensersatzklage wegen Amtspflichtverletzung des die Sache dilatorisch behandelnden Richters und schließlich ein außerordentlicher, ungeschriebener Rechtsbehelf in Gestalt einer Untätigkeitsbeschwerde), weil also insoweit keiner der derzeit gegebenen deutschen Rechtsbehelfe als wirksam im Sinne von Art. 13 der Konvention angesehen werden könne. Die beste Lösung sei insoweit ein präventiver Rechtsbehelf zur Beschleunigung von Verfahren, weil er die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 der Konvention verhindere und sie nicht nur nachträglich wiedergutmache. Schließlich ermutigt der Gerichtshof Deutschland ausdrücklich zu einer schnellen Verabschiedung eines Gesetzes mit Vorschriften, wie sie mit dem kurz vor der Bundestagswahl im September 2005 vorgelegten Gesetzentwurf zur Einführung einer neuen Untätigkeitsbeschwerde beabsichtigt gewesen seien; Hinweise darauf, so der Gerichtshof in seinem Urteil vom 8. Juni 2006, daß diese Initiative aufgegeben worden sei, bestünden nicht. Wir werden an späterer Stelle untersuchen müssen, ob diese hoffnungsvolle Erwartung des Straßburger Gerichtshofs wirklich gerechtfertigt war.

b) Konkrete Anweisungen in Einzelfällen

In einzelnen Urteilen hat der Straßburger Gerichtshof auch jenseits der beabsichtigten Behebung struktureller Probleme, also bei der Entscheidung über die Folgen von Rechtsverletzungen in singulären Fallkonstellationen, dem beklagten Staat ausdrückliche Handlungsanweisungen gegeben.

aa) Das Görgülü-Urteil des Straßburger Gerichtshofs

Einen solchen Fall, in dem der Gerichtshof die Wahl der Mittel zur Umsetzung der Entscheidung nicht allein dem beklagten Staat, also Deutschland, überlassen hat, stellt das Verfahren Görgülü ./. Deutschland dar. Es ging in jenem Fall um das Sorge- und Umgangsrecht eines in Deutschland lebenden türkischen Vaters für sein und mit seinem leiblichen Kind, das von der Kindesmutter zur Adoption freigegeben und in eine Pflegefamilie aufgenommen worden war. Die deutschen Gerichte hatten dem Kindesvater den Umgang mit seinem Sohn und das Sorgerecht für ihn verweigert. Der Straßburger Gerichtshof entschied indessen durch Urteil vom 26. Februar 2004, hierdurch werde das Recht des Kindesvaters auf Achtung seines Familienlebens gem. Art. 8 der Konvention verletzt. In jener Entscheidung führte der Gerichtshof u. a. aus: „Der Gerichtshof weist darauf hin, dass sich die Hohen Vertragsparteien in Art. 46 EMRK verpflichtet haben, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen, wobei das Ministerkomitee dessen Durchführung überwacht. Daraus folgt u. a., dass ein Urteil, in dem der Gerichtshof eine Verletzung feststellt, den beklagten Staat rechtlich nicht nur zur Zahlung der als gerechte Entschädigung zugesprochenen Beträge an den Betroffenen, sondern auch dazu verpflichtet, unter Aufsicht des Ministerkomitees allgemeine oder individuelle Maßnahmen in seiner Rechtsordnung zu treffen, um die vom Gerichtshof festgestellte Verletzung abzustellen und den Folgen so weit wie möglich abzuhelfen. Im Übrigen ist der beklagte Staat vorbehaltlich der Überwachung durch das Ministerkomitee in der Wahl der Mittel, mit denen er seinen rechtlichen Verpflichtungen nach Art. 46 EMRK nachkommen will, frei, sofern sie mit den Schlussfolgerungen vereinbar sind, zu denen der Gerichtshof in seinem Urteil gelangt. Das bedeutet im vorliegenden Fall, dass dem Beschwerdeführer mindestens der Umgang mit seinem Kind ermöglicht werden muss.“ Letztlich ist es dieser letzte, von mir hervorgehobene Satz in der Görgülü-Entscheidung des Straßburger Gerichtshofs, der dem deutschen Staat eine ganz konkrete Handlungsanweisung auferlegt hat, gewesen, der zu einer für das deutsche Recht richtungsweisenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe vom 14. Oktober 2004 geführt hat. Mit dieser Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht die Rechtskraftwirkung des Art. 46 EMRK deutlich relativiert und ein klares Spannungsverhältnis zum Straßburger Gerichtshof begründet:

bb) Der Görgülü-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts

Das Bundesverfassungsgericht bestätigt in seinem Beschluss vom 14. Oktober 2004 zunächst noch einmal seinen bereits früher vertretenen Standpunkt, wonach die EMRK, die der deutsche Bundesgesetzgeber in das deutsche Recht transformiert und ihr einen entsprechenden Rechtsanwendungsbefehl erteilt habe, in der deutschen Rechtsordnung im Range eines (einfachen) Bundesgesetzes stehe. Diese Rangzuweisung führe dazu, dass deutsche Gerichte die Konvention wie anderes Gesetzesrecht des Bundes auch im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden hätten. Einen unmittelbar verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab bildeten die Gewährleistungen der EMRK aber nicht. Die Gewährleistungen der Konvention würden jedoch die Auslegung der deutschen Grundrechte und die rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes beeinflussen. Der Text der Konvention und die Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs dienten auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen, sofern dies nicht zu einer Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führe. Auch wenn das Grundgesetz die deutsche öffentliche Gewalt programmatisch auf die internationale Zusammenarbeit und auf die europäische Integration festgelegt habe, verzichte es doch nicht auf die in dem letzten Wort der deutschen Verfassung liegende Souveränität. Aus Art. 46 der Konvention folge, dass die Urteile des Gerichtshofs für die an dem Verfahren beteiligten Parteien verbindlich seien und damit auch begrenzte materielle Rechtskraft hätten. Die materielle Rechtskraft im Individualbeschwerdeverfahren sei durch die personellen, sachlichen und zeitlichen Grenzen des Streitgegenstandes begrenzt. In der Sachfrage erlasse der Gerichtshof ein Feststellungsurteil darüber, ob die betroffene Vertragspartei die Konvention gewahrt oder sich in Widerspruch zu ihr gesetzt habe; eine kassatorische Entscheidung, die die angegriffene Maßnahme der Vertragspartei unmittelbar aufheben würde, ergehe hingegen nicht, mit anderen Worten: Der Straßburger Gerichthof könne keinen Verwaltungsakt, kein Urteil und keine Rechtsnorm aufheben. Regelmässig könne nur die betroffene Vertragspartei, also der beklagte Staat, beurteilen, welche rechtlichen Handlungsmöglichkeiten in der nationalen Rechtsordnung für die Umsetzung des Entscheidungsausspruchs bestünden. Verwaltungsbehörden und Gerichte könnten sich nicht unter Berufung auf eine Entscheidung des Gerichtshofs von der durch das Grundgesetz garantierten rechtsstaatlichen Kompetenzordnung und von der Bindung an Gesetz und Recht lösen. Zur Bindung an Gesetz und Recht gehöre aber auch die Pflicht zur Berücksichtigung der Gewährleistungen der Konvention und des Straßburger Gerichtshofs, was zumindest erfordere, dass die entsprechenden Texte und Judikate zur Kenntnis genommen würden und in den Willensbildungsprozeß des jeweiligen Entscheidungsträgers (Gesetzgeber, Behörde, Gericht) einfließen müßten. Hingegen sei einem Urteil des Straßburgers Gerichtshofs, welches feststelle, daß die deutsche Gerichtsentscheidung die Konvention verletze, keine die Rechtskraft dieser Entscheidung beseitigende Wirkung beizumessen; mit anderen Worten soll also der Straßburger Richterspruch die rechtskräftige deutsche Gerichtsentscheidung unangetastet lassen. Im konkret zu entscheidenden Fall habe das deutsche Oberlandesgericht, welches dem Beschwerdeführer nach wie vor den Umgang mit seinem Kind verweigere, sich nicht hinreichend mit der Entscheidung des Straßburger Gerichtshofs auseinandergesetzt. Wenn ich, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Wiedergabe dieses Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Oktober 2004 relativ breiten Raum gegeben habe – eine Anmerkung in diesem Zusammenhang: Insgesamt mußte das Bundesverfassungsgericht in der Sache Görgülü viermal entscheiden, weil sich eine deutsche Behörde und ein deutsches Oberlandesgericht beharrlich weigerten, dem Urteil des Straßburger Gerichtshofs Rechnung zu tragen – wenn ich also den Beschlusstext recht umfänglich zitiert habe, so deshalb, um Ihnen zu verdeutlichen, in welchem Maße das Bundesverfassungsgericht – auch wenn es zum guten Schluß hervorhebt, das nationale Gericht müsse den Straßburger Richterspruch bei seiner Entscheidungsfindung berücksichtigen – dem Urteil des Gerichtshofs letztlich doch nur eingeschränkte Bedeutung beimisst und zugleich den in anderen Fällen zur Entscheidung berufenen deutschen Instanzrichter vor die nahezu unlösbar erscheinende Aufgabe stellt, gleichsam einen Spagat zwischen dem Vorrang des deutschen Rechts einerseits und der gleichzeitigen Berücksichtigung der Konvention und der Entscheidungen des Straßburger Gerichtshofs andererseits zu vollziehen.

cc) Kritik am Standpunkt des Bundesverfassungsgerichts

In der juristischen Fachwelt ist der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts sehr unterschiedlich aufgenommen worden und auch Gegenstand von großem öffentlichen Interesse gewesen. In einem Interview mit dem Spiegel, einer großen deutschen Wochenzeitschrift, beklagte Luzius Wildhaber, der Beschluss aus Karlsruhe tue ihm weh, und Georg Ress, der damals noch amtierende deutsche Richter am Straßburger Gerichtshof, äußerte in diplomatischer Weise die Befürchtung, der Karlsruher Beschluss sei im Ausland mißverständlich. Um es mit meinen Worten weniger diplomatisch zu formulieren: Besonders in den jüngeren Konventionsstaaten in Mittel- und Osteuropa könne die Karlsruher Entscheidung gleichsam als Freibrief dafür verstanden werden, den Konventionsschutz auf großer Front aufzuweichen. Namhafte Autoren haben mit ehrenwerten, die Karlsruher Richter bislang aber nicht überzeugenden Argumenten versucht, dem Bundesverfassungsgericht entgegenzutreten: Ein Konventionsrecht habe als allgemeine Regel des Völkerrechts Übergesetzesrang; innerhalb der deutschen Verfassung komme einem Konventionsrecht formeller Verfassungsrang zu. Gegenstimmen von ebensolchem Gewicht haben aber die Karlsruher Entscheidung als notwendige Klarstellung des Verhältnisses zwischen Konventions- und nationalem Recht durchaus begrüßt, und mancher deutsche Richter, der um seine richterliche Unabhängigkeit fürchtete, wird die Zustimmung zur Entscheidung aus Karlsruhe mit einiger Freude aufgenommen haben. Die Diskussion ist noch nicht abgeschlossen und wird gewiß stets aufs Neue angefacht, wenn sich der deutsche Richter vor die Frage gestellt sieht, in welcher Weise er die Straßburger Entscheidungen zu beherzigen habe.

c) Konkrete Befolgung der Urteile des Straßburger Gerichtshofs

Schauen wir uns abschließend in der Praxis den konreten Vollzug der oben geschilderten Fälle aus jüngerer Zeit an, in denen vom Straßburger Gerichtshof eine Konventionsverletzung durch den deutschen Staat festgestellt wurde. Schon seit längerem informiert das Bundesjustizministerium die Öffentlichkeit in jährlichen Berichten über die Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs in Verfahren gegen Deutschland und hat seinem im laufenden Jahr erstellten Bericht vom Juni 2008, was gewiß zu begrüßen ist, erstmals ein Kapitel beigefügt, in dem die Umsetzung der gegen Deutschland ergangenen Entscheidungen nachgezeichnet wird.

aa) Zahlung einer Entschädigung/ Urteilsübersetzung

Diesem Bericht zufolge informiert Deutschland das Ministerkomitee, welches neben seinem eigenen Sekretariat von einer besonderen Vollstreckungsabteilung des Sekretariats des Europarats, unterstützt wird, dem „Department for the Execution of Judgements of the European Court of Human Rights“, über die Zahlung einer gerechten Entschädigung, sofern der Gerichtshof dem Beschwerdeführer eine solche zuerkannt hat oder sie etwa im Rahmen einer gütlichen Einigung zugesagt wurde. Außerdem wird als generelle Maßnahme der Bundesregierung die Übersetzung aller Urteile des Gerichtshofs in deutschen Sachen veranlasst, dem Europarat zur Veröffentlichung im Internet zur Verfügung gestellt sowie allen Gerichten und Behörden, die mit dem der Beschwerde zugrundeliegenden Fall betraut waren, bekannt gemacht. Es sei hier jedoch die kritische Frage aufgeworfen, ob und in welcher Weise sich beispielsweise diejenigen, die die überlange Dauer von Verfahren zu verantworten haben, wirklich von derartigen Bekanntmachungen beeindrucken lassen werden.

bb) Sonstiger Vollzug

(1) Was den Fall Görgülü anlangt, in dem es um die Kontakte des Vaters zu seinem Kind ging, dürften mittlerweile alle Anforderungen des oben näher geschilderten Urteils vom 26. Februar 2004 erfüllt sein. Natürlich hat der Kindesvater die ihm zugesprochene Entschädigung unmittelbar nach Eintritt der Endgültigkeit des Straßburger Urteils erhalten. Was für ihn aber noch viel wichtiger ist: Nachdem in den vergangenen Jahren schon große Fortschritte im Umgang des Vaters mit seinem Sohn erzielt werden konnten, hat Anfang dieses Jahres das zuständige Amtsgericht dem Vater einstweilig die alleinige elterliche Sorge übertragen; das Kind lebt nun beim Vater, der, übrigens ebenso wie die Pflegeeltern, vom Jugendamt beraten und unterstützt wird.

(2) Weiter zu dem oben angesprochenen Fall Sürmeli, in dem der Gerichtshof die Forderung nach einem wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelf in Deutschland zur Gewährleistung eines zügigen Verfahrens formuliert hatte. Zwei Jahre nach dem damaligen Urteilsspruch, in ihrem Bericht vom Juni 2008, mußte die Bundesregierung einräumen, es bestehe zwischen ihr, den beteiligten Kreisen sowie dem Deutschen Bundestag noch Beratungsbedarf über die Ausgestaltung eines Rechtsbehelfs im Sinne der Entscheidung des Straßburger Gerichtshofs; die Arbeiten an einem wirksamen nationalen Rechtsbehelf hätten deshalb noch nicht abgeschlossen werden können. Zu den angesprochenen „beteiligten Kreisen“ zählen unter anderen die Anwaltschaft, die die Einführung einer Untätigkeitsbeschwerde begrüßt, und der insbesondere die Richter aus der ordentlichen Justiz vertretende Deutsche Richterbund, der einen solchen zusätzlichen Rechtsbehelf für überflüssig hält.

IV. Schluss:

Das Verfahren Herbst ./. Deutschland Ich vermag dem, liebe Kolleginnen und Kollegen, bis auf ein gleichsam wort- und hilfloses Schulterzucken nichts hinzufügen – außer der Schilderung des die Gemüter zu Recht erregenden Falles Herbst ./. Deutschland, in dem der Straßburger Gerichtshof am 11. Januar 2007 ein Urteil erlassen hat, welches, soweit ersichtlich, noch seiner endgültigen Umsetzung in Deutschland bedarf: Ein Student der Rechtswissenschaft wollte im Jahre 1979, also vor nunmehr knapp 30 Jahren, sein Staatsexamen ablegen, erzielte aber bei den schriftlichen Arbeiten nur mangelhafte und ungenügende Leistungen. Es schloß sich ein verwaltungsgerichtliches Verfahren erster Instanz an, welches 6 Jahre dauerte. Ich muß an dieser Stelle für unsere italienischen und französischen Kollegen einflechten, daß es nach deutschem Recht grundsätzlich möglich ist, Entscheidungen der Behörden, die für die Abnahme staatlicher Prüfungen zuständig sind, einer verwaltungsgerichtlichen Kontrolle zu unterziehen mit dem Ziel, eine Neubewertung der mißlungenen Prüfungsarbeiten zu erstreiten, etwa dann, wenn eine vom Prüfungskandidaten erarbeitete Lösung vom Prüfer als falsch bewertet wird, obwohl sie in Wahrheit zumindest vertretbar ist. Der schon vor dem Verwaltungsgericht unterlegene Prüfungskandidat verfolgte sein Begehren durch alle Instanzen ohne Erfolg weiter. In der gleichen Angelegenheit wandte sich der durchgefallene Kandidat auch an die Zuvilgerichte mit dem Ziel, den Staat auf Schadensersatz wegen Amtspflichtverletzung in Anspruch zu nehmen: Unter Bezugnahme auf die Gutachten von 15 Rechtswissenschaftlern machte er geltend, seine schriftlichen Arbeiten seien fehlerhaft bewertet worden. Das Nichtbestehen der Prüfung habe bei ihm eine psychische Erkrankung mit der Folge ausgelöst, daß er sein Studium nicht habe beenden und den von ihm erstrebten juristischen Beruf nicht habe ergreifen können, was zu einem Verdienstausfall von mehreren hunderttausend Mark geführt habe. Dieser Prozeß zog sich ebenfalls über alle Instanzen und eine Zeitspanne von sage und schreibe 18 Jahren und 9 Monaten hin. Endlich sprach ein Oberlandesgericht, das aufgrund eines Sachverständigengutachtens zu dem Ergebnis kam, die Bewertung der beiden Examensarbeiten sei rechtswidrig fehlerhaft gewesen und die Prüfer hätten ihre Amtspflichten verletzt, dem Kläger einen Schadensersatz in Höhe von 1500 Deutschen Mark, umgerechnet also etwa 750 €, und auch ein relativ geringes Schmerzensgeld zu. Nach Abschluß des Zivilprozesses rief der Kläger im Jahre 2002 den Straßburger Gerichtshof an und rügte, über seine Klagen sei unter Verletzung von Art. 6 Abs. 1 der Konvention nicht innerhalb angemessener Frist entschieden worden. Der Gerichtshof wies in seinem Urteil vom 11. Januar 2007 – nach knapp 5jähriger Dauer des dortigen Verfahrens – die Beschwerde als unzulässig zurück, soweit sie eine überlange Verfahrensdauer vor den Verwaltungsgerichten rügte, weil Art. 6 Abs. 1 der Konvention auf Verfahren, die im wesentlichen die Bewertung von Kenntnissen und Erfahrungen in Schul- oder Hochschulprüfungen beträfen, keine Anwendung finde. Hingegen hatte der Kläger in Bezug auf die Rüge der überlangen Verfahrensdauer vor den Zivilgerichten teilweise Erfolg. Zwar könne der Gerichtshof keine Vermutungen darüber anstellen, wie sich die berufliche Laufbahn des Klägers entwickelt hätte, wenn die deutschen Gerichte rechtzeitig über seine Schadensersatzklagen entschieden hätten. Wegen des vom Kläger erlittenen immateriellen Schadens sei ihm aber eine Summe in Höhe von 10.000 € zuzusprechen. Obwohl der Kläger ein erhebliches Interesse an einem schnellen Abschluss des Zivilprozesses gehabt habe, habe das zuständige nationale Gericht erst nach sieben Jahren die Anhörung von Sachverständigen angeordnet. Insgesamt sei mit einer Verfahrensdauer von mehr als 18 Jahren die in Art. 6 Abs. 1 der Konvention normierte angemessene Frist überschritten. Wir können vermutlich nur annähernd erahnen, in welcher Weise dieses ganz außergewöhnlich lange Verfahren, welches sicher nicht als Ruhmesblatt in die deutsche Rechtsgeschichte eingehen wird, das gesamte Leben des Klägers, der übrigens mittlerweile das Pensionsalter erreicht hat, überschattet haben wird; vielleicht ist es sogar zu seinem einzigen Lebensinhalt geworden. Am Ende steht nach drei Jahrzehnten lediglich eine Entschädigungssume, für die der Kläger sich vielleicht einen gebrauchten Kleinwagen wird kaufen können. Auch dies sollten wir bedenken, wenn wir, über die juristische Dimension eines solchen Falles hinausgehend, den Vollzug der Entscheidungen des Straßburger Gerichtshofs diskutieren.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Relazione tedesca dr. Joachim Becker – Venezia – 31/5/2014

I. Einleitung

Vor einigen Wochen lief in einem Kino in Münster ein italienischer Dokumentarfilm mit dem Titel “Das Venedig-Prinzip” an. Wer – wie ich – diesen Film gesehen hat, wird das Kino bedrückt verlassen haben. Gezeigt haben die italienischen Filmemacher nicht etwa in Hochglanz die Schönheit und die einzigartige Kultur dieser Stadt, sondern die Schatten, die über ihr schweben: Gigantische Kreuzfahrtschiffe, die in die Lagune einfahren und ihren Beitrag zu einer Verschlechterung der ohnehin schon brüchigen Bausubstanz leisten, eine ständig schrumpfende Bevölkerung, ein Absterben der Infrastruktur – wo sind die Einkaufsläden geblieben, in denen die Einwohner Venedigs noch zu vertretbaren Preisen ihre Lebensmittel erwerben können? – , Immobilienpreise, die für den normal Sterblichen unerschwinglich sind, und damit einhergehend der Erwerb von Immobilien durch Menschen, die als Statussymbol einen Palazzo in Venedig haben müssen, ohne diesen allerdings mehr als zwei Wochen im Jahr zu nutzen. Das erschütternde Fazit dieses Films: Venedig, die Serenissima, die uns, die wir hier heute zusammengekommen sind, immer noch begeistert, sei auf dem besten Wege, eine Art Disneyland zu werden, Teil eines touristischen Events, eine bloße Filmkulisse ähnlich einer ausgestorbenen Stadt im Wilden Westen. Nicht nur vor diesem Hintergrund habt Ihr, liebe italienischen Freunde, eine sehr treffende Wahl für die Durchführung eines Kongresses mit einem so brisanten Thema wie demjenigen getroffen, mit dem wir uns heute befassen wollen.

Ist die Entwicklung, die in jenem Film geschildert wurde, überhaupt noch aufzuhalten? Ist es überhaupt die gemeinsame Auffassung aller Beteiligten, diese Entwicklung zu stoppen? Wer diesen Fragen nachgeht, wird zunächst sehr schnell bemerken, dass wir es hier nicht allein mit nationalen, spezifisch italienischen, sondern vielmehr mit in ganz Europa auftretenden, ja mit globalen Problemen zu tun haben, die bei Licht besehen jede Nation zu Lösungen drängen müssen. Bleiben wir beim Beispiel der gigantischen Kreuzfahrtschiffe: Ein Teil von ihnen wird auf einer bekannten Werft in Norddeutschland gebaut. Diese Werft, die etwa 2.500 Menschen Arbeit bietet, etwa 300 Ausbildungsplätze für Jugendliche zur Verfügung stellt und damit ein bedeutender Faktor für das Wohlergehen der Bewohner dieser ansonsten strukturschwachen Region ist, liegt am Rande einer Kleinstadt an einem an dieser Stelle nicht allzu breiten und auch nicht allzu tiefen Fluss, der Ems, der erst einige Kilometer weiter in die Nordsee mündet. Um zu gewährleisten, dass die Schiffe nach ihrer Fertigstellung in der Werft überhaupt in die Nordsee gelangen können, wurde einige Kilometer flussabwärts von der genannten Kleinstadt, also in Richtung Meer, ein Sperrwerk (Kosten: etwa 250 Millionen Euro) angelegt, welches bei der Überführung der Schiffe das Wasser des Flusses aufstaut und auf diese Weise zu dem benötigten Tiefgang führt. Wie das Sperrwerk die bis dahin weitgehend unberührte Flusslandschaft verändert hat, mögen Sie im Video sehen, ebenso eines der Kreuzfahrtschiffe, das den grünen Teppich der norddeutschen Landschaft durchschneidet. Was Sie nicht sehen, sind die Eingriffe in das ökologische Gleichgewicht, in die Flora und Fauna eines jahrtausendealten Naturraumes. Der von bedeutenden Umweltorganisationen initiierte Rechtsstreit um das Emssperrwerk hat die niedersächsische Verwaltungsgerichtsbarkeit Ende der 1990er Jahre und auch noch Anfang des vergangenen Jahrzehnts intensiv beschäftigt und endete schließlich vor dem Bundesverwaltungsgericht mit einem Vergleich, der u. a. dazu führte, dass die niedersächsische Landesregierung zusätzliche Millionenbeträge für ökologische Verbesserungen an der Ems bereitzustellen hatte.

Gemeinsam sind all den in Norddeutschland gebauten Kreuzfahrtschiffen ihre unglaublichen Ausmaße. Sie erreichen eine Länge von über 300 Metern und bieten mehreren tausend Touristen Platz, die von ebenso mehreren tausend Besatzungsmitgliedern mit Speisen und Getränken versorgt und betreut werden. Golfplätze auf diesen Schiffen gehören bereits zum Standard, ebenso wie etwa große Swimmingpools und Wasserrutschen von beträchtlicher Länge. Bei einer Besichtigung der Werft im Herbst vergangenen Jahres vertraute mir ein Ingenieur an: Wenn soeben eine Reederei ein Schiff mit einer 300 m langen Wasserrutsche bestellt hat, wird eine Konkurrenzreederei das nächste Schiff mit einer Wasserrutsche nicht unter 400 m Länge in Auftrag geben. Welche Ansprüche an die Freizeit, welches Streben nach immer mehr Luxus, welches unstillbare Verlangen nach etwas, was in dieser Weise noch kein Mensch zuvor erlebt hat, verbergen sich hinter einer derartigen Tourismusindustrie? Und welche Gewinne lassen sich mit einer solchen Industrie erzielen, die offenbar noch lange nicht an ihre Grenzen gestoßen ist? Wer profitiert von diesen Gewinnen und auf wessen Kosten gehen sie?

Mit solchen Fragen begeben wir uns in einen Bereich, der uns weit über unseren juristischen Horizont hinaus zu drängenden gesellschaftspolitischen, ökologischen, moralisch-ethischen, auch zu philosophischen und religiösen Fragen führt, auf Fragen, die ich aber gewiss im Rahmen unserer heutigen Veranstaltung nicht umfassend beantworten kann. Meine ganz persönliche Meinung dazu werden Sie am Schluss meines Referats hören. Als deutscher Referent, der nur ein Jurist ist, ein deutscher Verwaltungsrichter, habe ich unser heutiges Thema als Auftrag verstanden, in einem Überblick die rechtlichen Rahmenbedingungen darzustellen, die bei der Aufarbeitung und bei der Bewältigung des Konflikts zwischen Umweltinteressen einerseits und regionalen oder gar nationalen wirtschaftlichen Interessen andererseits von Bedeutung sind.

II. Europarechtliche Vorgaben zur Bewältigung des Konflikts zwischen Ökologie und Ökonomie

Beginnen wir mit dem Europarecht, das heute nahezu alle Bereiche des Umweltrechts erfasst und unser nationales Umweltrecht in vielfältiger Weise beeinflusst. Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) enthält nicht etwa nur Regelungen über die Wirtschafts- und Währungspolitik und – diese Bestimmung muß ich im Kontext unseres heutigen Themas auch erwähnen – mit Art. 195 eine Bestimmung, die die Union verpflichtet, die Maßnahmen der Mitgliedstaaten im Tourismussektor, insbesondere durch die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen der Union in diesem Sektor, zu ergänzen, sondern er enthält mit seinem Titel XX (Art. 191 ff. AEUV) auch ein eigenes Umweltkapitel, welches durch die Einheitliche Europäische Akte 1987 in den Vertrag eingefügt und in der Folge mehrfach modifiziert wurde. Dabei hat der Maastrichter Vertrag Anfang der 1990er Jahre zugleich den Umweltschutz in Art. 3 Abs. 3 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) verankert. Ich zitiere: “Die Union errichtet einen Binnenmarkt. Sie wirkt auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität hin.” Aus meiner Sicht liegt bereits in dieser Norm der Schlüssel auch für das Herangehen an unsere heutige Thematik, den Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie. Das europäische Primärrecht stellt Ökonomie und Ökologie als Zielbestimmungen in einer einzigen Bestimmung nebeneinander. Das bedeutet den vertraglich festgeschriebenen Abschied von einer ungehemmten, gleichsam grenzenlosen wirtschaftlichen Betätigung, anders ausgedrückt eine Einbettung aller Ökonomie in die gleichzeitige Forderung nach Ökologie, wobei uns zu denken geben mag, dass einerseits von einem bloß “ausgewogenen” Wirtschaftswachstum und andererseits von einem “hohen” Maß an Umweltschutz die Rede ist. Heute gehört die Umweltpolitik zu den fest etablierten und wichtigen Politiken der Union. Mit der letztlich auf den Amsterdamer Vertrag zurückgehenden sogenannten “Querschnittsklausel” des Art. 11 AEUV, wonach die Erfordernisse des Umweltschutzes bei der Festlegung und Durchführung der Unionspolitiken und Unionsmaßnahmen insbesondere zur Förderung einer nachhaltigen Entwicklung einbezogen werden müssen, wird deutlich: Den Umweltanliegen kann in angemessener Weise nur dann Rechnung getragen werden, wenn sie nicht nur im Rahmen der Umweltpolitik im engeren Sinne, sondern auch im Rahmen anderer Politiken verfolgt werden; mit anderen Worten: Jede Umweltpolitik wird solange nur ungenügende Erfolge vorweisen können, wie z. B. die Verkehrs-, die Landwirtschafts- oder die Energiepolitik ihre Anliegen ausklammern. Nach herrschender Auffassung sind die genannten umweltpolitischen Grundsätze rechtlich verbindlich, wobei dem Unionsgesetzgeber bei ihrer Verwirklichung ein weiter Gestaltungsspielraum zugebilligt wird. Die Mitgliedstaaten sind an die genannten Handlungsgrundsätze insoweit gebunden, als sie Unionsrecht anwenden oder durchführen. Zudem sind die Handlungsgrundsätze Auslegungsmaßstab für sonstige primär- oder sekundärrechtliche Vorschriften. Sie sind auch bei der Bestimmung der Reichweite mitgliedstaatlicher Handlungsspielräume zu beachten. Einzelne können jedoch aus den genannten Prinzipien grundsätzlich keine Rechte ableiten. Das ändert aber nichts daran, dass sich insbesondere aus Grundrechten subjektive Rechte des Einzelnen ergeben mögen, deren Tragweite dann auch unter Beachtung der unionsrechtlichen umweltpolitischen Handlungsgrundsätze zu bestimmen ist.

Die Durchführung und auch die Finanzierung des EU-Umweltrechts obliegen, dies ist in Art. 192 Abs. 4 AEUV ausdrücklich klargestellt, grundsätzlich den Mitgliedstaaten. Dabei gilt, dass Richtlinien, auch wenn Art.288 Abs. 3 AEUV die Wahl der Form und der Mittel ihrer Umsetzung den innerstaatlichen Stellen überlässt, im Prinzip durch nach außen wirksame Rechtsakte, also letztlich durch Gesetze im formellen oder materiellen Sinn, umzusetzen sind. Bezüglich des administrativen und judikativen Vollzugs von Unionsrecht gilt grundsätzlich das Prinzip der Anwendung nationaler Verfahrens- und Prozessordnungen. Uns allen ist bewusst, dass die tatsächliche Anwendung der unionsrechtlichen Bestimmungen und auch der nationalen Vorschriften, die auf unionsrechtlichen Vorgaben beruhen, teilweise erhebliche Defizite aufweist. Das mag zum einen auf einem nicht immer sehr ausgeprägten ökologischen Bewusstsein der Bevölkerung in den Mitgliedstaaten beruhen, zum anderen aber auch auf fehlenden Kapazitäten und Kompetenzen der zuständigen Verwaltungen und, auch dies ist zu beklagen, der Gerichte.

Es würde den Rahmen unserer heutigen Veranstaltung bei weitem sprengen, wenn ich den Versuch unternehmen würde, auch nur annähernd den Inhalt des Sekundärrechts im Rahmen der europäischen Umweltpolitik zu skizzieren, das mittlerweile mehrere hundert Rechtsakte umfaßt. Von den allgemeinen oder bereichsübergreifenden Rechtsakten seien insoweit nur schlagwortartig genannt: Die Umweltinformationsrichtlinie, die den Einzelnen grundsätzlich das Recht auf Zugang zu bei mitgliedstaatlichen Behörden vorhandenen Informationen gewährt, die Richtlinie über die Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Ausarbeitung bestimmter umweltbezogener Pläne und Programme, die im Zuge der Umsetzung der Anforderungen der Aarhus-Konvention eine frühzeitige und effektive Beteiligung der Öffentlichkeit sicherstellen soll, die Richtlinien zur Umweltverträglichkeitsprüfung, die gewährleissten sollen, daß ausgehend von einem integrierten, über den Schutz nur einzelner Umweltmedien wie Wasser und Luft hinausgehenden Ansatz die Auswirkungen auf die Umwelt insgesamt zu berücksichtigen sind, und auch die Richtlinie über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt, die die Mitgliedstaaten verpflichtet, bestimmte umweltschädliche Verhaltensweisen unter Strafe zu stellen. Aus dem Bereich des Gewässerschutzes sind besonders zu nennen die Wasserrahmenrichtlinie zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für Maßnahmen der Union im Bereich der Wasserpolitik, die Richtlinie über Umweltqualitätsnormen im Bereich der Wasserpolitik, die das Ziel hat, einen guten chemischen Zustand der Oberflächengewässer zu erreichen, die Richtlinien über die Qualität der Badegewässer, des Wassers für den menschlichen Gebrauch, zum Schutz des Grundwassers, die Behandlung von kommunalem Abwasser oder die Verwendung von Klärschlamm in der Landwirtschaft, nicht zuletzt die Hochwasserschutzrichtlinie zur Bewertung und für das Management von Hochwasserrisiken. Der Luftverschmutzung sollen entgegenwirken die Richtlinie über Luftqualität und saubere Luft für Europa, die Richtlinie über nationale Emissionshöchstmengen für bestimmte Luftschadstoffe; vor Lärm sollen schützen die Richtlinien über umweltbelastende Geräuschimmissionen von zur Verwendung im Freien vorgesehenen Geräten oder auch die Richtlinie über die Bewertung und Bekämpfung von Umgebungslärm. Ferner ist zu erwähnen das Sekundärrecht in den Bereichen Bewirtschaftung und Umweltressourcen, etwa zum Schutz der Ozonschicht oder betreffend ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Union und zudem in den Bereichen der Förderung erneuerbarer Energiequellen. Mehrere Rechtsakte zielen in diesem Zusammenhang auf den Schutz der natürlichen Umwelt als solchen ab, wie etwa die Vogelschutz- und die Habitatrichtlinien.
Schließlich ist hinzuweisen auf dasjenige Sekundärrecht, das dem Schutz vor bestimmten gefährlichen Stoffen oder Tätigkeiten dient. Hinsichtlich der gefährlichen Stoffe ist insbesondere das Chemikalienrecht von Bedeutung, dessen Kernstück die sogenannte REACH-Verordnung bildet. “REACH” steht dabei für “Registration, Evaluation and Authorisation of Chemicals”, ein integriertes System für die Registrierung, Anmeldung, Risikobewertung und Zulassung chemischer Stoffe. Wirtschaftsunternehmen, die Chemikalien herstellen oder importieren, werden dadurch verpflichtet, die mit den Chemikalien verbundenen Risiken zu bewerten und Maßnahmen zur Beherrschung der von ihnen erkannten Risiken zu treffen. Ich erinnere an Art. 3 Abs. 3 EUV: Ökonomie, auch risikoträchtige Wirtschaft ja, dabei aber gleichzeitig hohen umweltrechtlichen Standards unterworfen. Ganz ähnlichen Charakter weist die Richtlinie 96/82 zur Beherrschung der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen auf, die die nach der Dioxin-Katastrophe von Seveso und weiteren benachbarten Gemeinden nördlich von Mailand im Juli 1976 erlassene Richtlinie 82/501 ersetzt hat und deshalb auch Seveso II – Richtlinie genannt wird: Sie soll, um ein möglichst hohes Schutzniveau zu gewährleisten – schwere Unfälle mit gefährlichen Stoffen verhindern oder zumindest die Unfallfolgen für Mensch und Umwelt begrenzen. Wer von den Älteren unter uns die verheerenden Folgen für Menschen, Tiere und Pflanzen jener Katastrophe noch heute vor Augen hat – und ich glaube, man kann die damaligen Bilder niemals vergessen – , dem wird auf eindrucksvolle Weise der Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie bewußt, mit dem wir uns hier heute beschäftigen.

III. Bewältigung des Konflikts durch das deutsche Umweltschutzrecht

Wir müssen nun das für unser Thema schier unerschöpfliche Europarecht verlassen und tauchen in das deutsche Recht ein. Ich beginne hier mit Art. 20 a des Grundgesetzes, also der deutschen Verfassung. Diese Norm, 1994 in das Grundgesetz eingefügt und später um das Schutzziel “Tierschutz” ergänzt, hat folgenden Wortlaut: “Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.” Ähnlich dem schon erwähnten Art. 11 AEUV ist auch Art. 20 a GG eine Querschnittsklausel, die hier in allen Regelungsbereichen der Verfassung zur Anwendung gelangt. Die Bestimmung ist nach herrschender Ansicht nicht nur ein politischer Programmsatz, sondern vielmehr als eine Staatszielbestimmung formuliertes zwingendes Recht, das als Ausdruck des ökologischen Nachhaltigkeitsprinzips auf eine intergenerationelle Gerechtigkeit abzielt, auf Ressourcenschonung, auf eine vorausschauende, zukunftsgerichtete Umweltpolitik. In erster Linie ist Adressat dieser Verfassungsnorm die parlamentarische Gesetzgebung, da, wie wir gehört haben, Umweltschutz durch die Exekutive und Judikative lediglich “nach Maßgabe von Gesetz und Recht” erfolgt. Mit anderen Worten geschieht eine rechtliche Maßstabsbildung, die die Exekutive und auch die Judikative zur selbständigen Durchsetzung ökologischer Ziele berechtigt, grundsätzlich erst durch Gesetz. Eine Pflicht des Gesetzgebers zur prozessualen Optimierung durch Einführung eines Verbandsklagerechts ist dieser Norm nicht zu entnehmen, ebenso wenig ein allgemeines Grundrecht auf Umweltschutz im Sinne eines selbständigen Individualrechts auf Schaffung oder Erhaltung einer sauberen Umwelt. Wohl aber wird in Deutschland diskutiert, aus dem verfassungsgerichtlich anerkannten Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum auch einen Anspruch auf die Einhaltung ökologischer Mindeststandards abzuleiten, der dann, wenn Umweltbelastungen über die ubiquitären Beeinträchtigungen hinaus die physische oder psychische Integrität des Menschen in entwürdigender Weise beeinträchtigen, zu einem staatlich zu gewährenden Schutz vor entwürdigenden Umweltbedingungen führen soll.

Was in Deutschland die Gesetzgebungskompetenzen und deren gesetzgeberische Wahrnehmung anlangt, mangelt es an zunächst einer einheitlichen Kompetenzgrundlage für den Umweltschutz. Ein allgemeiner Kompetenztitel “Recht des Umweltschutzes” fehlt; stattdessen finden sich eher mosaikartige Kompetenzzuweisungen an den Bundesgesetzgeber etwa in der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz für das Atom- und Strahlenschutzrecht oder – dies ist eine Besonderheit unseres deutschen föderalen Systems – in der zwischen Bund und Ländern konkurrierenden, um es schlagwortartig zu sagen: dem Bund den Vorrang einräumenden Gesetzgebung auf dem Gebiet des Rechts der Wirtschaft, das mit den ausdrücklich aufgeführten Teilkompetenzen für “Bergbau, Industrie, Energiewirtschaft” qualifiziert umweltrelevante Kompetenztitel umfasst.

Von der ferner bestehende konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz auf dem Gebiet der Luftreinhaltung und Lärmbekämpfung sowie weiterer Kompetenzzuweisungen hat der Bund durch den Erlass des Bundesimmissionsschutzgesetzes Gebrauch gemacht, das Menschen, Tiere und Pflanzen, den Boden, das Wasser, die Atmosphäre sowie Kultur- und sonstige Sachgüter vor schädlichen Umwelteinwirkungen schützen und dem Entstehen schädlicher Umwelteinwirkungen vorbeugen soll. Dazu werden u. a. bestimmte gewerblichen Zwecken dienende oder im Rahmen wirtschaftlicher Unternehmungen Verwendung findende Anlagen mit besonderem Beeinträchtigungspotenzial einer Genehmigungspflicht unterworfen und die Erteilung der notwendigen Genehmigung von der Erfüllung strenger Voraussetzungen abhängig gemacht. Die komplexe Interessenlage, die in unserem heutigen Thema angesprochen wird, ja sogar ein wirkliches Dilemma bei der Errichtung und dem Betrieb wirtschaftlich genutzter industrieller Anlagen tritt hier offen zutage: Das Gesetz soll einerseits einen gerechten Ausgleich schaffen zwischen den Umweltschutzinteressen, die durch die grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates für Leben und körperliche Unversehrtheit der Bevölkerung noch verstärkt werden, und andererseits auch den ebenfalls grundrechtlich, nämlich durch die Berufsfreiheit und die Eigentumsgarantie, geschützten Interessen der Vorhabenträger und Anlagenbetreiber Rechnung tragen, die, um deren Sichtweise salopp zu formulieren, mit ihrem Steueraufkommen effektiven Umweltschutz erst ermöglichen und sich oftmals darauf berufen, zu viel Umweltschutz wirke sich investitions- und innovationshemmend aus.

Das ebenfalls zur konkurrierenden Gesetzgebung zählende Bodenrecht bildet die Grundlage für das bundesrechtliche Baugesetzbuch, das eine der in der praktischen Anwendung bedeutsamsten Quellen des materiellen Umweltrechts darstellt. Es verpflichtet die Gemeinden bei der Aufstellung der Bauleitpläne u. a. dazu, sowohl die Belange der Wirtschaft – dazu gehören auch die Erhaltung, Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen – als auch die Belange des Umweltschutzes einschließlich des Naturschutzes und der Landschaftspflege zu berücksichtigen und sie gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen. Dabei ist ausdrücklich gesetzlich bestimmt, daß mit Grund und Boden sparsam und schonend umgegangen werden soll. Möglichkeiten zur Wiedernutzbarmachung von Flächen sind zu nutzen; Bodenversiegelungen auf das notwendige Maß zu begrenzen. Landwirtschaftlich, als Wald oder für Wohnzwecke genutzte Flächen sollen nur im notwendigen Umfang umgenutzt werden. Schon bei der Aufstellung der gemeindlichen Bauleitpläne ist für die Belange des Umweltschutzes eine Umweltprüfung durchzuführen, deren Ergebnis in der Abwägung der widerstreitenden Belange zu berücksichtigen ist.

Der Kompetenztitel des Bodenrechts bildet auch die Grundlage für nichtbauliche Nutzungsformen des Bodens, namentlich für das Bundesbodenschutzgesetz, das den Zweck hat, nachhaltig die Funktionen des Bodens zu sichern oder wiederherzustellen. Hierzu sind schädliche Bodenveränderungen abzuwehren, der Boden und Altlasten zu sanieren und Vorsorge gegen nachteilige Einwirkungen auf den Boden zu treffen.

Eine besondere ökologische Bedeutung bei der übergreifenden, räumlichen Gesamtplanung kommt auch der auf den der konkurrierenden Gesetzgebung unterfallenden Raumordnung zu, der sich der Bundesgesetzgeber in Gestalt des Raumordnungsgesetzes angenommen hat. Während die örtliche Bauleitplanung gleichsam auf einer Mikroebene Konflikte zwischen Ökonomie und Ökologie erkennen, bewerten und lösen muß, soll die Raumplanung großflächig und sozusagen auf der Makroebene Umweltschutz hier und konkurrierende ökonomische Interessen dort zum Ausgleich bringen. Dazu sind der Gesamtraum der Bundesrepublik Deutschland und seine Teilräume durch zusammenfassende, überörtliche und fachübergreifende Raumordnungspläne zu entwickeln, zu ordnen und zu sichern; die sozialen und wirtschaftlichen Ansprüche an den Raum sind mit seinen ökologischen Funktionen in Einklang zu bringen.

Auf die nähere Beleuchtung weiterer umweltrechtlich geprägter Kompetenztitel im deutschen Grundgesetz und ihrer Nutzbarmachung durch den Gesetzgeber muß ich aus Zeitgründen ebenso verzichten wie auf eine Darstellung des Umweltschutzrechts der einzelnen Bundesländer.

IV. Verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz

In Deutschland ist der verwaltungsgerichtliche Rechtsschutz, der das Ziel hat, zu überprüfen, ob Verwaltungsentscheidungen mit dem Umweltrecht in Einklang stehen, weit ausgeprägt. Mit dem Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz vom 7. Dezember 2006 ist für Umweltvereinigungen die Möglichkeit eröffnet, im Wege einer Verbandsklage gegen die Zulassung insbesondere von Industrieanlagen und Infrastrukturmaßnahmen vorzugehen und die Verletzung umweltrechtlicher Vorschriften zu rügen. Damit ist der bei mancher unserer zurückliegenden Tagungen diskutierte eherne Grundsatz des deutschen Verwaltungsprozessrechts, wonach nur derjenige klagebefugt ist, der die Verletzung eigener Rechte geltend machen kann, durchbrochen. Gleichwohl und unabhängig davon ist nach wie vor die Anzahl derjenigen Verfahren, in denen sich einzelne Betroffene, zumeist Nachbarn der geplanten Anlagen und Maßnahmen, vor den Verwaltungsgerichten gegen umweltrelevante Behördenentscheidungen zur Wehr setzen, beträchtlich. Ich denke nur an die Normenkontrollklagen gegen Bebauungspläne, die mit der Begründung angegriffen werden, die von der Gemeinde vorgenommene Abwägung der widerstreitenden Belange sei wegen einer defizitären Berücksichtigung des Umweltschutzes fehlerhaft, oder an Klagen gegen die Zulassung von Kraftwerken, Windenergieanlagen oder – in letzter Zeit zunehmend – von geruchsintensiven Schweine- und Hähnchenmastanlagen, allesamt Prozesse, die die Verwaltungsgerichtsbarkeit vor große Herausforderungen stellen.

V. Schlussbetrachtung

Zu Beginn meines Referats habe ich Ihnen in Aussicht gestellt, Ihnen meine persönliche Ansicht zum Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie zu offenbaren. Ich leite diese Auffassung ab aus einer der Grundeinstellungen des von mir hochverehrten Albert Schweitzer, dessen Geburtsort Kaysersberg im Elsass wir vor einigen Jahren mit unseren französischen Freunden besucht haben, und sie heißt für mich: Ehrfurcht vor dem Leben. Das bedeutet: Respekt vor der Schöpfung, Verantwortung auch für das Erbe, das wir unseren Kindern und Enkeln hinterlassen werden, und die Einsicht, dass wir nur diesen einen Planeten haben. Dabei ist auch Bescheidenheit in unseren Ansprüchen angebracht gegenüber dem, was wir von unserem eigenen Leben erwarten. Es lohnt sich, darüber nachzudenken, welches Kind wirklich glücklicher sein wird: Dasjenige Kind, das auf dem Kreuzfahrtschiff eine 300 Meter lange Wasserrutsche hinuntergleitet, während seine Eltern auf demselben Schiff Golf spielen oder sich anderweitig vergnügen, oder dasjenige Kind, das gemeinsam mit seinen Eltern einen Tag am Meer verbringt, in den Bergen wandert oder einfach auch nur zu Hause ein Spiel macht, bei dem es lachen und unbeschwert sein kann.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Joachim Becker