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Relazione tedesca dr. Joachim Becker – Venezia – 31/5/2014

I. Einleitung

Vor einigen Wochen lief in einem Kino in Münster ein italienischer Dokumentarfilm mit dem Titel “Das Venedig-Prinzip” an. Wer – wie ich – diesen Film gesehen hat, wird das Kino bedrückt verlassen haben. Gezeigt haben die italienischen Filmemacher nicht etwa in Hochglanz die Schönheit und die einzigartige Kultur dieser Stadt, sondern die Schatten, die über ihr schweben: Gigantische Kreuzfahrtschiffe, die in die Lagune einfahren und ihren Beitrag zu einer Verschlechterung der ohnehin schon brüchigen Bausubstanz leisten, eine ständig schrumpfende Bevölkerung, ein Absterben der Infrastruktur – wo sind die Einkaufsläden geblieben, in denen die Einwohner Venedigs noch zu vertretbaren Preisen ihre Lebensmittel erwerben können? – , Immobilienpreise, die für den normal Sterblichen unerschwinglich sind, und damit einhergehend der Erwerb von Immobilien durch Menschen, die als Statussymbol einen Palazzo in Venedig haben müssen, ohne diesen allerdings mehr als zwei Wochen im Jahr zu nutzen. Das erschütternde Fazit dieses Films: Venedig, die Serenissima, die uns, die wir hier heute zusammengekommen sind, immer noch begeistert, sei auf dem besten Wege, eine Art Disneyland zu werden, Teil eines touristischen Events, eine bloße Filmkulisse ähnlich einer ausgestorbenen Stadt im Wilden Westen. Nicht nur vor diesem Hintergrund habt Ihr, liebe italienischen Freunde, eine sehr treffende Wahl für die Durchführung eines Kongresses mit einem so brisanten Thema wie demjenigen getroffen, mit dem wir uns heute befassen wollen.

Ist die Entwicklung, die in jenem Film geschildert wurde, überhaupt noch aufzuhalten? Ist es überhaupt die gemeinsame Auffassung aller Beteiligten, diese Entwicklung zu stoppen? Wer diesen Fragen nachgeht, wird zunächst sehr schnell bemerken, dass wir es hier nicht allein mit nationalen, spezifisch italienischen, sondern vielmehr mit in ganz Europa auftretenden, ja mit globalen Problemen zu tun haben, die bei Licht besehen jede Nation zu Lösungen drängen müssen. Bleiben wir beim Beispiel der gigantischen Kreuzfahrtschiffe: Ein Teil von ihnen wird auf einer bekannten Werft in Norddeutschland gebaut. Diese Werft, die etwa 2.500 Menschen Arbeit bietet, etwa 300 Ausbildungsplätze für Jugendliche zur Verfügung stellt und damit ein bedeutender Faktor für das Wohlergehen der Bewohner dieser ansonsten strukturschwachen Region ist, liegt am Rande einer Kleinstadt an einem an dieser Stelle nicht allzu breiten und auch nicht allzu tiefen Fluss, der Ems, der erst einige Kilometer weiter in die Nordsee mündet. Um zu gewährleisten, dass die Schiffe nach ihrer Fertigstellung in der Werft überhaupt in die Nordsee gelangen können, wurde einige Kilometer flussabwärts von der genannten Kleinstadt, also in Richtung Meer, ein Sperrwerk (Kosten: etwa 250 Millionen Euro) angelegt, welches bei der Überführung der Schiffe das Wasser des Flusses aufstaut und auf diese Weise zu dem benötigten Tiefgang führt. Wie das Sperrwerk die bis dahin weitgehend unberührte Flusslandschaft verändert hat, mögen Sie im Video sehen, ebenso eines der Kreuzfahrtschiffe, das den grünen Teppich der norddeutschen Landschaft durchschneidet. Was Sie nicht sehen, sind die Eingriffe in das ökologische Gleichgewicht, in die Flora und Fauna eines jahrtausendealten Naturraumes. Der von bedeutenden Umweltorganisationen initiierte Rechtsstreit um das Emssperrwerk hat die niedersächsische Verwaltungsgerichtsbarkeit Ende der 1990er Jahre und auch noch Anfang des vergangenen Jahrzehnts intensiv beschäftigt und endete schließlich vor dem Bundesverwaltungsgericht mit einem Vergleich, der u. a. dazu führte, dass die niedersächsische Landesregierung zusätzliche Millionenbeträge für ökologische Verbesserungen an der Ems bereitzustellen hatte.

Gemeinsam sind all den in Norddeutschland gebauten Kreuzfahrtschiffen ihre unglaublichen Ausmaße. Sie erreichen eine Länge von über 300 Metern und bieten mehreren tausend Touristen Platz, die von ebenso mehreren tausend Besatzungsmitgliedern mit Speisen und Getränken versorgt und betreut werden. Golfplätze auf diesen Schiffen gehören bereits zum Standard, ebenso wie etwa große Swimmingpools und Wasserrutschen von beträchtlicher Länge. Bei einer Besichtigung der Werft im Herbst vergangenen Jahres vertraute mir ein Ingenieur an: Wenn soeben eine Reederei ein Schiff mit einer 300 m langen Wasserrutsche bestellt hat, wird eine Konkurrenzreederei das nächste Schiff mit einer Wasserrutsche nicht unter 400 m Länge in Auftrag geben. Welche Ansprüche an die Freizeit, welches Streben nach immer mehr Luxus, welches unstillbare Verlangen nach etwas, was in dieser Weise noch kein Mensch zuvor erlebt hat, verbergen sich hinter einer derartigen Tourismusindustrie? Und welche Gewinne lassen sich mit einer solchen Industrie erzielen, die offenbar noch lange nicht an ihre Grenzen gestoßen ist? Wer profitiert von diesen Gewinnen und auf wessen Kosten gehen sie?

Mit solchen Fragen begeben wir uns in einen Bereich, der uns weit über unseren juristischen Horizont hinaus zu drängenden gesellschaftspolitischen, ökologischen, moralisch-ethischen, auch zu philosophischen und religiösen Fragen führt, auf Fragen, die ich aber gewiss im Rahmen unserer heutigen Veranstaltung nicht umfassend beantworten kann. Meine ganz persönliche Meinung dazu werden Sie am Schluss meines Referats hören. Als deutscher Referent, der nur ein Jurist ist, ein deutscher Verwaltungsrichter, habe ich unser heutiges Thema als Auftrag verstanden, in einem Überblick die rechtlichen Rahmenbedingungen darzustellen, die bei der Aufarbeitung und bei der Bewältigung des Konflikts zwischen Umweltinteressen einerseits und regionalen oder gar nationalen wirtschaftlichen Interessen andererseits von Bedeutung sind.

II. Europarechtliche Vorgaben zur Bewältigung des Konflikts zwischen Ökologie und Ökonomie

Beginnen wir mit dem Europarecht, das heute nahezu alle Bereiche des Umweltrechts erfasst und unser nationales Umweltrecht in vielfältiger Weise beeinflusst. Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) enthält nicht etwa nur Regelungen über die Wirtschafts- und Währungspolitik und – diese Bestimmung muß ich im Kontext unseres heutigen Themas auch erwähnen – mit Art. 195 eine Bestimmung, die die Union verpflichtet, die Maßnahmen der Mitgliedstaaten im Tourismussektor, insbesondere durch die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen der Union in diesem Sektor, zu ergänzen, sondern er enthält mit seinem Titel XX (Art. 191 ff. AEUV) auch ein eigenes Umweltkapitel, welches durch die Einheitliche Europäische Akte 1987 in den Vertrag eingefügt und in der Folge mehrfach modifiziert wurde. Dabei hat der Maastrichter Vertrag Anfang der 1990er Jahre zugleich den Umweltschutz in Art. 3 Abs. 3 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) verankert. Ich zitiere: “Die Union errichtet einen Binnenmarkt. Sie wirkt auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität hin.” Aus meiner Sicht liegt bereits in dieser Norm der Schlüssel auch für das Herangehen an unsere heutige Thematik, den Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie. Das europäische Primärrecht stellt Ökonomie und Ökologie als Zielbestimmungen in einer einzigen Bestimmung nebeneinander. Das bedeutet den vertraglich festgeschriebenen Abschied von einer ungehemmten, gleichsam grenzenlosen wirtschaftlichen Betätigung, anders ausgedrückt eine Einbettung aller Ökonomie in die gleichzeitige Forderung nach Ökologie, wobei uns zu denken geben mag, dass einerseits von einem bloß “ausgewogenen” Wirtschaftswachstum und andererseits von einem “hohen” Maß an Umweltschutz die Rede ist. Heute gehört die Umweltpolitik zu den fest etablierten und wichtigen Politiken der Union. Mit der letztlich auf den Amsterdamer Vertrag zurückgehenden sogenannten “Querschnittsklausel” des Art. 11 AEUV, wonach die Erfordernisse des Umweltschutzes bei der Festlegung und Durchführung der Unionspolitiken und Unionsmaßnahmen insbesondere zur Förderung einer nachhaltigen Entwicklung einbezogen werden müssen, wird deutlich: Den Umweltanliegen kann in angemessener Weise nur dann Rechnung getragen werden, wenn sie nicht nur im Rahmen der Umweltpolitik im engeren Sinne, sondern auch im Rahmen anderer Politiken verfolgt werden; mit anderen Worten: Jede Umweltpolitik wird solange nur ungenügende Erfolge vorweisen können, wie z. B. die Verkehrs-, die Landwirtschafts- oder die Energiepolitik ihre Anliegen ausklammern. Nach herrschender Auffassung sind die genannten umweltpolitischen Grundsätze rechtlich verbindlich, wobei dem Unionsgesetzgeber bei ihrer Verwirklichung ein weiter Gestaltungsspielraum zugebilligt wird. Die Mitgliedstaaten sind an die genannten Handlungsgrundsätze insoweit gebunden, als sie Unionsrecht anwenden oder durchführen. Zudem sind die Handlungsgrundsätze Auslegungsmaßstab für sonstige primär- oder sekundärrechtliche Vorschriften. Sie sind auch bei der Bestimmung der Reichweite mitgliedstaatlicher Handlungsspielräume zu beachten. Einzelne können jedoch aus den genannten Prinzipien grundsätzlich keine Rechte ableiten. Das ändert aber nichts daran, dass sich insbesondere aus Grundrechten subjektive Rechte des Einzelnen ergeben mögen, deren Tragweite dann auch unter Beachtung der unionsrechtlichen umweltpolitischen Handlungsgrundsätze zu bestimmen ist.

Die Durchführung und auch die Finanzierung des EU-Umweltrechts obliegen, dies ist in Art. 192 Abs. 4 AEUV ausdrücklich klargestellt, grundsätzlich den Mitgliedstaaten. Dabei gilt, dass Richtlinien, auch wenn Art.288 Abs. 3 AEUV die Wahl der Form und der Mittel ihrer Umsetzung den innerstaatlichen Stellen überlässt, im Prinzip durch nach außen wirksame Rechtsakte, also letztlich durch Gesetze im formellen oder materiellen Sinn, umzusetzen sind. Bezüglich des administrativen und judikativen Vollzugs von Unionsrecht gilt grundsätzlich das Prinzip der Anwendung nationaler Verfahrens- und Prozessordnungen. Uns allen ist bewusst, dass die tatsächliche Anwendung der unionsrechtlichen Bestimmungen und auch der nationalen Vorschriften, die auf unionsrechtlichen Vorgaben beruhen, teilweise erhebliche Defizite aufweist. Das mag zum einen auf einem nicht immer sehr ausgeprägten ökologischen Bewusstsein der Bevölkerung in den Mitgliedstaaten beruhen, zum anderen aber auch auf fehlenden Kapazitäten und Kompetenzen der zuständigen Verwaltungen und, auch dies ist zu beklagen, der Gerichte.

Es würde den Rahmen unserer heutigen Veranstaltung bei weitem sprengen, wenn ich den Versuch unternehmen würde, auch nur annähernd den Inhalt des Sekundärrechts im Rahmen der europäischen Umweltpolitik zu skizzieren, das mittlerweile mehrere hundert Rechtsakte umfaßt. Von den allgemeinen oder bereichsübergreifenden Rechtsakten seien insoweit nur schlagwortartig genannt: Die Umweltinformationsrichtlinie, die den Einzelnen grundsätzlich das Recht auf Zugang zu bei mitgliedstaatlichen Behörden vorhandenen Informationen gewährt, die Richtlinie über die Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Ausarbeitung bestimmter umweltbezogener Pläne und Programme, die im Zuge der Umsetzung der Anforderungen der Aarhus-Konvention eine frühzeitige und effektive Beteiligung der Öffentlichkeit sicherstellen soll, die Richtlinien zur Umweltverträglichkeitsprüfung, die gewährleissten sollen, daß ausgehend von einem integrierten, über den Schutz nur einzelner Umweltmedien wie Wasser und Luft hinausgehenden Ansatz die Auswirkungen auf die Umwelt insgesamt zu berücksichtigen sind, und auch die Richtlinie über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt, die die Mitgliedstaaten verpflichtet, bestimmte umweltschädliche Verhaltensweisen unter Strafe zu stellen. Aus dem Bereich des Gewässerschutzes sind besonders zu nennen die Wasserrahmenrichtlinie zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für Maßnahmen der Union im Bereich der Wasserpolitik, die Richtlinie über Umweltqualitätsnormen im Bereich der Wasserpolitik, die das Ziel hat, einen guten chemischen Zustand der Oberflächengewässer zu erreichen, die Richtlinien über die Qualität der Badegewässer, des Wassers für den menschlichen Gebrauch, zum Schutz des Grundwassers, die Behandlung von kommunalem Abwasser oder die Verwendung von Klärschlamm in der Landwirtschaft, nicht zuletzt die Hochwasserschutzrichtlinie zur Bewertung und für das Management von Hochwasserrisiken. Der Luftverschmutzung sollen entgegenwirken die Richtlinie über Luftqualität und saubere Luft für Europa, die Richtlinie über nationale Emissionshöchstmengen für bestimmte Luftschadstoffe; vor Lärm sollen schützen die Richtlinien über umweltbelastende Geräuschimmissionen von zur Verwendung im Freien vorgesehenen Geräten oder auch die Richtlinie über die Bewertung und Bekämpfung von Umgebungslärm. Ferner ist zu erwähnen das Sekundärrecht in den Bereichen Bewirtschaftung und Umweltressourcen, etwa zum Schutz der Ozonschicht oder betreffend ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Union und zudem in den Bereichen der Förderung erneuerbarer Energiequellen. Mehrere Rechtsakte zielen in diesem Zusammenhang auf den Schutz der natürlichen Umwelt als solchen ab, wie etwa die Vogelschutz- und die Habitatrichtlinien.
Schließlich ist hinzuweisen auf dasjenige Sekundärrecht, das dem Schutz vor bestimmten gefährlichen Stoffen oder Tätigkeiten dient. Hinsichtlich der gefährlichen Stoffe ist insbesondere das Chemikalienrecht von Bedeutung, dessen Kernstück die sogenannte REACH-Verordnung bildet. “REACH” steht dabei für “Registration, Evaluation and Authorisation of Chemicals”, ein integriertes System für die Registrierung, Anmeldung, Risikobewertung und Zulassung chemischer Stoffe. Wirtschaftsunternehmen, die Chemikalien herstellen oder importieren, werden dadurch verpflichtet, die mit den Chemikalien verbundenen Risiken zu bewerten und Maßnahmen zur Beherrschung der von ihnen erkannten Risiken zu treffen. Ich erinnere an Art. 3 Abs. 3 EUV: Ökonomie, auch risikoträchtige Wirtschaft ja, dabei aber gleichzeitig hohen umweltrechtlichen Standards unterworfen. Ganz ähnlichen Charakter weist die Richtlinie 96/82 zur Beherrschung der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen auf, die die nach der Dioxin-Katastrophe von Seveso und weiteren benachbarten Gemeinden nördlich von Mailand im Juli 1976 erlassene Richtlinie 82/501 ersetzt hat und deshalb auch Seveso II – Richtlinie genannt wird: Sie soll, um ein möglichst hohes Schutzniveau zu gewährleisten – schwere Unfälle mit gefährlichen Stoffen verhindern oder zumindest die Unfallfolgen für Mensch und Umwelt begrenzen. Wer von den Älteren unter uns die verheerenden Folgen für Menschen, Tiere und Pflanzen jener Katastrophe noch heute vor Augen hat – und ich glaube, man kann die damaligen Bilder niemals vergessen – , dem wird auf eindrucksvolle Weise der Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie bewußt, mit dem wir uns hier heute beschäftigen.

III. Bewältigung des Konflikts durch das deutsche Umweltschutzrecht

Wir müssen nun das für unser Thema schier unerschöpfliche Europarecht verlassen und tauchen in das deutsche Recht ein. Ich beginne hier mit Art. 20 a des Grundgesetzes, also der deutschen Verfassung. Diese Norm, 1994 in das Grundgesetz eingefügt und später um das Schutzziel “Tierschutz” ergänzt, hat folgenden Wortlaut: “Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.” Ähnlich dem schon erwähnten Art. 11 AEUV ist auch Art. 20 a GG eine Querschnittsklausel, die hier in allen Regelungsbereichen der Verfassung zur Anwendung gelangt. Die Bestimmung ist nach herrschender Ansicht nicht nur ein politischer Programmsatz, sondern vielmehr als eine Staatszielbestimmung formuliertes zwingendes Recht, das als Ausdruck des ökologischen Nachhaltigkeitsprinzips auf eine intergenerationelle Gerechtigkeit abzielt, auf Ressourcenschonung, auf eine vorausschauende, zukunftsgerichtete Umweltpolitik. In erster Linie ist Adressat dieser Verfassungsnorm die parlamentarische Gesetzgebung, da, wie wir gehört haben, Umweltschutz durch die Exekutive und Judikative lediglich “nach Maßgabe von Gesetz und Recht” erfolgt. Mit anderen Worten geschieht eine rechtliche Maßstabsbildung, die die Exekutive und auch die Judikative zur selbständigen Durchsetzung ökologischer Ziele berechtigt, grundsätzlich erst durch Gesetz. Eine Pflicht des Gesetzgebers zur prozessualen Optimierung durch Einführung eines Verbandsklagerechts ist dieser Norm nicht zu entnehmen, ebenso wenig ein allgemeines Grundrecht auf Umweltschutz im Sinne eines selbständigen Individualrechts auf Schaffung oder Erhaltung einer sauberen Umwelt. Wohl aber wird in Deutschland diskutiert, aus dem verfassungsgerichtlich anerkannten Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum auch einen Anspruch auf die Einhaltung ökologischer Mindeststandards abzuleiten, der dann, wenn Umweltbelastungen über die ubiquitären Beeinträchtigungen hinaus die physische oder psychische Integrität des Menschen in entwürdigender Weise beeinträchtigen, zu einem staatlich zu gewährenden Schutz vor entwürdigenden Umweltbedingungen führen soll.

Was in Deutschland die Gesetzgebungskompetenzen und deren gesetzgeberische Wahrnehmung anlangt, mangelt es an zunächst einer einheitlichen Kompetenzgrundlage für den Umweltschutz. Ein allgemeiner Kompetenztitel “Recht des Umweltschutzes” fehlt; stattdessen finden sich eher mosaikartige Kompetenzzuweisungen an den Bundesgesetzgeber etwa in der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz für das Atom- und Strahlenschutzrecht oder – dies ist eine Besonderheit unseres deutschen föderalen Systems – in der zwischen Bund und Ländern konkurrierenden, um es schlagwortartig zu sagen: dem Bund den Vorrang einräumenden Gesetzgebung auf dem Gebiet des Rechts der Wirtschaft, das mit den ausdrücklich aufgeführten Teilkompetenzen für “Bergbau, Industrie, Energiewirtschaft” qualifiziert umweltrelevante Kompetenztitel umfasst.

Von der ferner bestehende konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz auf dem Gebiet der Luftreinhaltung und Lärmbekämpfung sowie weiterer Kompetenzzuweisungen hat der Bund durch den Erlass des Bundesimmissionsschutzgesetzes Gebrauch gemacht, das Menschen, Tiere und Pflanzen, den Boden, das Wasser, die Atmosphäre sowie Kultur- und sonstige Sachgüter vor schädlichen Umwelteinwirkungen schützen und dem Entstehen schädlicher Umwelteinwirkungen vorbeugen soll. Dazu werden u. a. bestimmte gewerblichen Zwecken dienende oder im Rahmen wirtschaftlicher Unternehmungen Verwendung findende Anlagen mit besonderem Beeinträchtigungspotenzial einer Genehmigungspflicht unterworfen und die Erteilung der notwendigen Genehmigung von der Erfüllung strenger Voraussetzungen abhängig gemacht. Die komplexe Interessenlage, die in unserem heutigen Thema angesprochen wird, ja sogar ein wirkliches Dilemma bei der Errichtung und dem Betrieb wirtschaftlich genutzter industrieller Anlagen tritt hier offen zutage: Das Gesetz soll einerseits einen gerechten Ausgleich schaffen zwischen den Umweltschutzinteressen, die durch die grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates für Leben und körperliche Unversehrtheit der Bevölkerung noch verstärkt werden, und andererseits auch den ebenfalls grundrechtlich, nämlich durch die Berufsfreiheit und die Eigentumsgarantie, geschützten Interessen der Vorhabenträger und Anlagenbetreiber Rechnung tragen, die, um deren Sichtweise salopp zu formulieren, mit ihrem Steueraufkommen effektiven Umweltschutz erst ermöglichen und sich oftmals darauf berufen, zu viel Umweltschutz wirke sich investitions- und innovationshemmend aus.

Das ebenfalls zur konkurrierenden Gesetzgebung zählende Bodenrecht bildet die Grundlage für das bundesrechtliche Baugesetzbuch, das eine der in der praktischen Anwendung bedeutsamsten Quellen des materiellen Umweltrechts darstellt. Es verpflichtet die Gemeinden bei der Aufstellung der Bauleitpläne u. a. dazu, sowohl die Belange der Wirtschaft – dazu gehören auch die Erhaltung, Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen – als auch die Belange des Umweltschutzes einschließlich des Naturschutzes und der Landschaftspflege zu berücksichtigen und sie gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen. Dabei ist ausdrücklich gesetzlich bestimmt, daß mit Grund und Boden sparsam und schonend umgegangen werden soll. Möglichkeiten zur Wiedernutzbarmachung von Flächen sind zu nutzen; Bodenversiegelungen auf das notwendige Maß zu begrenzen. Landwirtschaftlich, als Wald oder für Wohnzwecke genutzte Flächen sollen nur im notwendigen Umfang umgenutzt werden. Schon bei der Aufstellung der gemeindlichen Bauleitpläne ist für die Belange des Umweltschutzes eine Umweltprüfung durchzuführen, deren Ergebnis in der Abwägung der widerstreitenden Belange zu berücksichtigen ist.

Der Kompetenztitel des Bodenrechts bildet auch die Grundlage für nichtbauliche Nutzungsformen des Bodens, namentlich für das Bundesbodenschutzgesetz, das den Zweck hat, nachhaltig die Funktionen des Bodens zu sichern oder wiederherzustellen. Hierzu sind schädliche Bodenveränderungen abzuwehren, der Boden und Altlasten zu sanieren und Vorsorge gegen nachteilige Einwirkungen auf den Boden zu treffen.

Eine besondere ökologische Bedeutung bei der übergreifenden, räumlichen Gesamtplanung kommt auch der auf den der konkurrierenden Gesetzgebung unterfallenden Raumordnung zu, der sich der Bundesgesetzgeber in Gestalt des Raumordnungsgesetzes angenommen hat. Während die örtliche Bauleitplanung gleichsam auf einer Mikroebene Konflikte zwischen Ökonomie und Ökologie erkennen, bewerten und lösen muß, soll die Raumplanung großflächig und sozusagen auf der Makroebene Umweltschutz hier und konkurrierende ökonomische Interessen dort zum Ausgleich bringen. Dazu sind der Gesamtraum der Bundesrepublik Deutschland und seine Teilräume durch zusammenfassende, überörtliche und fachübergreifende Raumordnungspläne zu entwickeln, zu ordnen und zu sichern; die sozialen und wirtschaftlichen Ansprüche an den Raum sind mit seinen ökologischen Funktionen in Einklang zu bringen.

Auf die nähere Beleuchtung weiterer umweltrechtlich geprägter Kompetenztitel im deutschen Grundgesetz und ihrer Nutzbarmachung durch den Gesetzgeber muß ich aus Zeitgründen ebenso verzichten wie auf eine Darstellung des Umweltschutzrechts der einzelnen Bundesländer.

IV. Verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz

In Deutschland ist der verwaltungsgerichtliche Rechtsschutz, der das Ziel hat, zu überprüfen, ob Verwaltungsentscheidungen mit dem Umweltrecht in Einklang stehen, weit ausgeprägt. Mit dem Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz vom 7. Dezember 2006 ist für Umweltvereinigungen die Möglichkeit eröffnet, im Wege einer Verbandsklage gegen die Zulassung insbesondere von Industrieanlagen und Infrastrukturmaßnahmen vorzugehen und die Verletzung umweltrechtlicher Vorschriften zu rügen. Damit ist der bei mancher unserer zurückliegenden Tagungen diskutierte eherne Grundsatz des deutschen Verwaltungsprozessrechts, wonach nur derjenige klagebefugt ist, der die Verletzung eigener Rechte geltend machen kann, durchbrochen. Gleichwohl und unabhängig davon ist nach wie vor die Anzahl derjenigen Verfahren, in denen sich einzelne Betroffene, zumeist Nachbarn der geplanten Anlagen und Maßnahmen, vor den Verwaltungsgerichten gegen umweltrelevante Behördenentscheidungen zur Wehr setzen, beträchtlich. Ich denke nur an die Normenkontrollklagen gegen Bebauungspläne, die mit der Begründung angegriffen werden, die von der Gemeinde vorgenommene Abwägung der widerstreitenden Belange sei wegen einer defizitären Berücksichtigung des Umweltschutzes fehlerhaft, oder an Klagen gegen die Zulassung von Kraftwerken, Windenergieanlagen oder – in letzter Zeit zunehmend – von geruchsintensiven Schweine- und Hähnchenmastanlagen, allesamt Prozesse, die die Verwaltungsgerichtsbarkeit vor große Herausforderungen stellen.

V. Schlussbetrachtung

Zu Beginn meines Referats habe ich Ihnen in Aussicht gestellt, Ihnen meine persönliche Ansicht zum Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie zu offenbaren. Ich leite diese Auffassung ab aus einer der Grundeinstellungen des von mir hochverehrten Albert Schweitzer, dessen Geburtsort Kaysersberg im Elsass wir vor einigen Jahren mit unseren französischen Freunden besucht haben, und sie heißt für mich: Ehrfurcht vor dem Leben. Das bedeutet: Respekt vor der Schöpfung, Verantwortung auch für das Erbe, das wir unseren Kindern und Enkeln hinterlassen werden, und die Einsicht, dass wir nur diesen einen Planeten haben. Dabei ist auch Bescheidenheit in unseren Ansprüchen angebracht gegenüber dem, was wir von unserem eigenen Leben erwarten. Es lohnt sich, darüber nachzudenken, welches Kind wirklich glücklicher sein wird: Dasjenige Kind, das auf dem Kreuzfahrtschiff eine 300 Meter lange Wasserrutsche hinuntergleitet, während seine Eltern auf demselben Schiff Golf spielen oder sich anderweitig vergnügen, oder dasjenige Kind, das gemeinsam mit seinen Eltern einen Tag am Meer verbringt, in den Bergen wandert oder einfach auch nur zu Hause ein Spiel macht, bei dem es lachen und unbeschwert sein kann.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Joachim Becker